: Ein Fossil unter Fossilen
Franz Müntefering sollte der Bremer SPD noch einmal die Agenda 2010 erklären. Der Mann aus Berlin nutzte sein bestes Argument: sich selbst
Bremen taz ■ Mit Franz Müntefering kommt Schwung in die Bude. „Wenn die Straßen kaputt sind, gehn wir doch auch nicht zu VW und sagen: Ihr müsst mitbezahlen“, ruft er ins volle Lichthaus, als sich ein Bremer Genosse über die Vorzugsbehandlung der Regierung für Pharmaunternehmen beschwert – das sorgt für Stimmung. Der Chef der SPD-Bundestagsfraktion sollte am Montagabend in Bremen-Gröpelingen den Funktionären noch einmal die Agenda 2010 nahe bringen – zu besichtigen war ein Lehrstück politischer Rhetorik.
Der Meister aus Berlin ist angekündigt für 19 Uhr, er erscheint eine Stunde später, die Bundestagsabgeordneten Volker Kröning und Uwe Beckmeyer machen so lange die Pausenclowns – Beckmeyer heizt die Massen mit der Maut an. Ja gut, in Österreich klappe auf Anhieb, worüber sich Deutschland monatelang streitet, „aber“, ruft Beckmeyer in den Saal, „das ist eine Technologie, die 30 Jahre alt ist.“ Dem Volk ist das wurscht, es muffelt lautstark.
Als Franz Müntefering später über dasselbe Thema, die Maut, in fast denselben Worten wie Beckmeyer spricht („Wir müssen wollen, dass deutsche Firmen Spitzenklasse sind, weltweit“), da bleibt der Protest leise – denn der Mann aus Berlin ist mit der ganz großen Kelle unterwegs: Er beginnt mit der Globalisierung, deren Dynamik noch längst nicht alle begriffen hätten, nimmt über die „Europäisierung“ – „die größte historische Entwicklung in der vergangenen Hälfte des vergangenen Jahrhunderts“ – Kurs auf diese Republik, landet bei der immer weniger werdenden Arbeitszeit und kommt mit der Anekdote, dass seine – und das nächste Wort betont er besonders – gesetzliche Krankenkasse ihm zu seinem 49. Jahr der Mitgliedschaft einen Kasten Zigarillos geschenkt habe. Da lachen die Bremer Genossen und stören sich erst viel später daran, dass die Gesundheitsreform in Münteferings Rede schlicht fehlt. Der Mann aus Berlin lässt sie lachen, dann ruft er: „Wenn dieses Land nicht verrückt ist, dann hört es auf, die 50-, 55-, die 60- und die 65-Jährigen herauszujagen.“ Applaus, laut.
Franz Münteferings Trick, der auch an diesem Abend zieht, ist er selbst: „Mein Vater war Fabrikarbeiter, er hat stolz erzählt: Meine Frau muss nicht arbeiten.“ Das ist jetzt anders, Frauen sollen arbeiten wollen, die SPD ist dabei. „Meine Mutter hatte zwölf Geschwister, mein Vater sieben, die erzogen sich gegenseitig“. Und heute – alles Einzelkinder: „Wie werden diese Kinder eigentlich groß?“ Nicht, indem man Erzieherinnen so behandelt, „als wären das Hilfskräfte.“
Oder der Balkan. „Nie wieder deutsche Stiefel auf dem Balkan – hab ich von meinem Vadder gelernt“, sagt Müntefering, inzwischen sei er anderer Meinung, und das sei gut so.
Universitäten. Für die Masse, für die Spitze? „Beides, sage ich dann“, so der schmale Mann mit der schneidigen Frisur, der dabei en passant erwähnt, dass er eigentlich keine Ahnung hat, wovon er spricht, „weil ich nie auf einer Universität war“ – aber das ist schon lange egal.
Solidarität. Immer noch „sozialdemokratisches Herzblut“ – „meine Mutter, eine sehr christliche Frau, hätte es wahrscheinlich Nächstenliebe genannt“, Müntefering schweigt für den Bruchteil eines Augenblicks, „ich schäme mich nicht, das zu sagen.“
Die Botschaft des Abends lautet: Seht her, ich bin wie ihr. Arbeiterkind, gesetzlich krankenversichert seit 50 Jahren – und trotzdem an der Spitze eines Wandels, dessen Notwendigkeit ihr immer noch nicht verstehen wollt. Das muss anders werden, Glück auf! susanne gieffers
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