: Bilder einer Ausstellung
Ich muss damit beginnen, dass ich mich [...] gleich in zweifacher Hinsicht fehl an diesem Platz (fühle). Erstens bin ich kein Historiker, und zweitens bin ich kein Deutscher. Das heißt, ich bin nicht imstande, das Material der Ausstellung in sachkundiger Weise zu beurteilen, und mir fehlt das nationale Engagement, jene Art Gewissen, das einen zwingt, sich mit diesen Verbrechen in einem bestimmten weiteren Sinn zu identifizieren beziehungsweise sich gegen sie zu stellen. Noch dazu war ich, wie Sie wissen, selbst Insasse von Nazitodeslagern; von Objektivität, die eine historische Ausstellung doch von mir verlangen sollte, kann also nicht die Rede sein. Verzeihen Sie mir, wenn ich rundheraus erkläre: Armeen haben mich von jeher angewidert. Ich bin im militaristischen Klima der Dreißigerjahre aufgewachsen, im damals irredentistisch gesinnten Ungarn, das sich nach den Demütigungen und territorialen Verlusten in der Folge des Friedensabkommens von Trianon auf Revanche und die Rückeroberung der von dem Land abgetrennten Gebiete rüstete. Das Geschmetter von Marschmusik und das Dröhnen von Stiefeln begleiteten mein Leben. Ganz unabhängig von meiner politischen Auffassung, die durch die jüdische Abstammung geprägt war, liebte ich Churchill und Roosevelt allein schon deshalb, weil sie statt komischer, aber bedrohlicher Uniformen stets abgegriffene Hüte und über dem Bauch geknöpfte Westen trugen. Irgendwie strahlten sie – damals kannte ich das Wort noch nicht – Zivilcourage aus, die jeder militärischen Sturheit und der damit einhergehenden unversöhnlichen Beschränktheit schon beim Anblick überlegen war.
Ich bin von meinem Gegenstand ein wenig abgekommen, aber, wie gesagt, ich bin in Verlegenheit. Wozu dient diese Ausstellung eigentlich? Was verleiht ihr Aktualität? Wir erinnern uns noch gut, dass die erste Version dieser Ausstellung seinerzeit viel Staub aufgewirbelt hat, Diskussionen auslöste, zu Stellungnahmen zwang. Doch das ist ein paar Jahre her. Seitdem spricht Deutschland mehr von den eigenen Leiden als von dem Unheil, das es über andere Völker gebracht hat. Der gegen Deutschland geführte Luftkrieg kam auf die Tagesordnung, der über die deutschen Städte verhängte Bombenterror, ferner das bisher verschwiegene, besser gesagt: verdrängte, mit Tabu belegte Problem der Vertreibung deutschsprachiger Bevölkerungsteile. Wen könnte es verwundern? Gerechterweise ist es auch einmal an der Zeit, dass die Deutschen über das, was sie erlitten haben, klagen, und solange Schriftsteller wie Erich Nossack oder Sebald oder Günter Grass es tun oder taten, hat das Wehklagen des Cellos einen edlen Ton. Unheil könnte daraus nur erwachsen, wenn sich in diese wehmütig-tragische Melodie noch irgendwie die Dissonanz des Ressentiments: eines dem Selbstmitleid entsprungenen Hasses mischte.
In dieser Hinsicht also ist die Ausstellung aktuell: Sie dient gewissermaßen der Erhaltung des Gleichgewichts, wenngleich ihr Material einigermaßen trocken und monoton ist. Wenn der gewöhnliche Besucher den Ausstellungsraum so betritt, wie wir ein geschichtswissenschaftliches Museum betreten, in dem wir auf verblichene Schriften und Dokumente einer abgeschlossenen historischen Vergangenheit stoßen, und sich dann, vielleicht unter missbilligendem Kopfschütteln, beeilt, wieder dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen ist, ins so genannte normale Leben: dann hat diese Ausstellung ihr Ziel offensichtlich nicht erreicht. Nun ja, so sind Armeen eben, könnte dieser Besucher zum Beispiel denken. Römische Legionen machten Karthago dem Erdboden gleich, Wallensteins Heere haben Gräuel auf Gräuel gehäuft, Napoleons Soldaten Moskau in Brand gesteckt. Und seitdem?, könnte er weitergrübeln. Ein regionaler Krieg folgt dem anderen, und an der Gnadenlosigkeit der Armeen hat sich nicht das Geringste geändert.
Ja, auf diese Weise kann man den Gegenstand der Ausstellung – die Verbrechen der Wehrmacht – auch relativieren, wenn man hinreichend abgestumpft ist durch die vom Fernsehen übertragenen alltäglichen Kriege unserer Zeit. Diese Kriege unterscheiden sich wesentlich von denen, die dem 20. Jahrhundert vorausgegangen sind, und gerade die besondere Grausamkeit der neuen Kriege liefert den Beweis für diesen Unterschied. Wie könnte man auch die totalitär mobilisierten Soldaten der regulären modernen Armeen mit den Söldnern der alten Heere vergleichen? Diese Soldaten kamen aus dem zivilen bürgerlichen Leben direkt an die Front, wo sie sich in für sie bis dahin unvorstellbaren Situationen wiederfanden. Schon die unerwarteten Gräuel des Ersten Weltkriegs, das unglaubliche Ausmaß des Zusammenbruchs, die Revolutionen und Gegenrevolutionen und die psychologischen Auswirkungen all dessen nahmen den späteren, Zweiter Weltkrieg genannten Weltbrand vorweg, in dem die europäische Zivilisation einen tödlichen Schlag erlitt.
Was nimmt der normale Besucher der Ausstellung davon wahr? Zweifellos besteht die Gefahr, dass diese Ausstellung das vorgeführte Material historisiert und es dadurch dem Menschlichen entrückt, all dem, was sich in der Gegenwart miterleben lässt. Obwohl es offensichtlich das Ziel der Ausstellung ist, dass mit demjenigen, der sie betrachtet, etwas geschieht, was einer Erschütterung vergleichbar ist. Ich glaube, dass das äußerst schwer zu erreichen sein wird. Den Grund dafür aber gibt nicht die Ausstellung, sondern die menschliche Natur: Es ist schwer anzunehmen, was wir hier erblicken. Ich gestehe, dass auch ich schwere Tage durchgemacht habe, als ich den Katalog dieser Ausstellung durchblätterte. Sollte ich etwa vergessen haben, dass ich selbst Teilhaber und Überlebender dieses Grauens bin? Sollte ich den Geruch der taufrischen Morgendämmerung vergessen haben, da die Gewehrsalven erdröhnten? Den Sonntagabend im Lager, als die Krematoriumsanwärter noch vom Festtagskuchen träumten? Wenn ich es auch nicht vergessen habe, doch nachdem ich es in Worten gestaltet hatte, war alles irgendwie in mir erloschen und zur Ruhe gekommen.
Ich gebe diese Ruhe nicht gern auf, obwohl genau das angezeigt wäre: Denn die Schande, von der diese Bilder und Dokumente sprechen, berührt uns ja alle, egal, ob wir dort anwesend waren, wo Menschen ihr eigenes Massengrab graben mussten, um anschließend von ihren Mitmenschen dort hinein geschossen zu werden, oder ob wir nur durch Erbschaft in den Besitz dieser ungeheuerlichen Tatsachen gekommen sind, von denen wir uns niemals wieder befreien werden können. Ecce homo – das also ist der Mensch? Eines Tages wird er von seiner Frau, seinen Kinder, seinen alten Eltern weggerufen und tags darauf schon schießt er Frauen, Kinder, alte Menschen in die Gruben hinein, auch noch mit sichtlicher Lust auf seinem Angesicht? Wie ist das möglich? Offensichtlich mittels Hass; Hass, der – zusammen mit der Lüge – zum unverzichtbaren Bedürfnis, man könnte sagen, zur wichtigsten Seelennahrung des Menschen in unserer Zeit geworden ist.
Für mich liegt die Bedeutung dieser Ausstellung zu einem nicht geringen Maß auch darin, dass sie für solche gedankliche Assoziationen weiten Raum bietet. Auch wenn inzwischen sechzig Jahre vergangen sind, können – und müssen – wir von den Verbrechen der Wehrmacht sprechen, wir müssen uns dabei jedoch bewusst sein, warum und in welcher Absicht wir es tun. Die alliierten Mächte konnten wenigstens sagen, dass sie mit der Einäscherung deutscher Städte Vergeltung für Rotterdam und London, Warschau und Leningrad übten. Der von der deutschen Wehrmacht geführte „Vernichtungskrieg“ wendete sich damit schließlich gegen die Deutschen selbst; und wenn wir heute, aus dem Abstand von sechzig Jahren, darüber nachdenken, vergleichen wir vielleicht nicht mehr das Maß begangener Grausamkeiten, sondern bedenken eher, dass der Hass, wenn er freigesetzt wird, ebenso universal ist wie das Leid, das er verursacht. Die totalitären Regime, die Praxis der auf staatlicher Ebene begangenen oder staatlich sanktionierten Kriminalität, den sinnlosen Fanatismus, der den Menschen von der persönlichen Verantwortung entbindet: das alles hat der Hass hervorgebracht. Ich sehe Hass als eine Energie. Energie ist blind, doch ihre Quelle ist die gleiche Vitalität, aus der sich auch die kreativen Kräfte nähren. Hass, wenn er gut organisiert ist, schafft Realität; Realität, die doch ebenso durch Liebe geschaffen werden könnte.
Mag sein, dass ich über die Grenze hinausgegangen bin, die eine Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht dem Redner setzt. Doch würden wir die Dimensionen nicht ausweiten, dann gäbe es nichts, worüber sich hier sprechen ließe. Denn das Elend ist ja gerade, dass es uns in keiner Weise gelingt, uns von der finsteren Kraft zu befreien, welche den Soldaten, die gegenüber den nackt am Rande der Gräber wartenden Menschen aufgereiht sind, die Gewehre hochreißt. Vor ein paar Jahren habe ich in einem Essay geschrieben: „Mir ist der Holocaust nie als Imperfekt erschienen.“ Und: „Seit Auschwitz ist nichts geschehen, was Auschwitz widerlegt hätte.“ Obwohl – und das ist nicht zu leugnen – gerade hier, in Deutschland, in dieser Hinsicht viel getan wurde, wie gerade auch diese Ausstellung beweist. Die Deutschen wissen sehr genau, wohin der Weg des totalen Hasses führt; sie haben aber allmählich auch gelernt, wie erhebend das Bekenntnis der Wahrheit ist, die aufrichtige Konfrontation mit sich selbst. Eine ganze Generation ist in diesem Geist aufgewachsen, und diese Generation hat vollbracht, was in Deutschland bisher unvorstellbar schien: Sie hat eine der stabilsten Demokratien Europas geschaffen.
Alles das sind Tatsachen, die die Welt verändert, allerdings jedoch nicht grundlegend verändert haben. Ich verstehe darunter, dass die Weltordnung des Hasses nicht von einer Weltordnung der Liebe abgelöst worden ist; wir leben immer noch in der gleichen Welt, in der all das möglich war, was die Bilder dieser Ausstellung zeigen, ja, mehr noch, es setzte sich unaufhörlich fort. Und der Grund dafür ist, meiner Auffassung nach, dass zwar Auschwitz möglich war, die einzig denkbare Antwort auf dieses einzigartig dastehende Verbrechen, Katharsis, aber nicht möglich war. Die Realität hat sie nicht möglich gemacht, unsere tagtägliche Wirklichkeit, das Leben, das wir führen. Schon mehrfach hat man mich gefragt, was ich denn unter dieser bestimmten Katharsis verstehe, wozu sie letzten Endes denn hätte geschehen müssen. Ich kann da nur unbestimmt antworten. Katharsis ist die persönliche Angelegenheit eines jeden: Ich selbst bin eines Tages darauf gekommen, dass ich mich von der vernichtenden Last des Holocaust nur befreien kann, wenn ich seine verheerende Kraft in Schaffenskraft umforme. Jeder hat die Möglichkeit, die eigene Person dem konformen kollektiven Massenschicksal zu entziehen und das, was ihm auferlegt ist, zu seiner Existenz, zu seinem selbst gewählten Schicksal zu machen. Ich kann mir jedoch auch eine institutionalisierte Katharsis vorstellen. Ist der Holocaust denn nicht im abendländisch-christlichen Kulturkreis geschehen? Hätte denn das Lamm die Schuld nicht auf sich nehmen müssen? Und nicht allein wegen der zweitausendjährigen Judenfeindlichkeit der Kirche, die sich bei den Europäern zum Weltbild verfestigt hat, sondern auch im Interesse der Erneuerung des Christentums und um dessen tatsächliche Universalität zu erweisen. Wenn ich davon spreche, lächeln die Menschen für gewöhnlich. Wie ich mir das denn vorstellte? Das wäre mit der Politik der Kirche nicht zu vereinbaren. Irreal, sagen sie, und zweifellos haben sie Recht. Nur dass aus unzähligen solcher Irrealismen die Realität von Auschwitz hervorgegangen ist.
Bei intimeren Gesprächen wird heute immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es vorstellbar ist, dass sich Auschwitz, wenn auch in anderer Form, wiederhole. György Tatár, der ungarische Philosoph, schreibt in seiner jüngsten Arbeit: „Die Ausnahme kann nicht vergehen, weil die Vergänglichkeitsregeln für sie nicht gültig sind. Ausnahme bedeutet, dass sich etwas in der Tat nicht wiederholen kann, nur – fortsetzen.“ Der wiedererwachende Nationalismus, die alten zerstörerischen und selbstzerstörerischen Affekte, das Erscheinen neuer Ideologien und die Notwendigkeit eines Sündenbocks öffnen jedwedem Ressentiment Tür und Tor. Wie seltsam es vielleicht auch klingen mag, aber – da die Katharsis ausgeblieben ist – besteht auch die Gefahr des Judenhasses nach Auschwitz und wegen Auschwitz weiter fort. Möglicherweise halten Sie das für eine gewagte Behauptung. Doch ist es nun mal merkwürdig, dass es eine Sorte von Denken gibt, für die es keinen Widerspruch bedeutet, einerseits das Andenken an die während des Holocaust ermordeten Juden zu bewahren, ja, sogar zu pflegen, und auf der anderen Seite unbefangen die neu legalisierte Sprache des Antisemitismus zu sprechen. Diese Sprache ist in einem Europa entstanden, das von den jugoslawischen Massakern, den Terrorangriffen auf New York, von der Globalisierung und vom Irakkrieg verstört und gespalten ist, und als Vorwand benutzt sie die Empörung über die Politik des jüdischen Staates, die Politik Israels. Ich verteidige diese Politik nicht, und Ehre denen, die echte Sorge um Israel bei ihrer Kritik leitet; allzu häufig aber kommt es auch vor, dass dahinter deutlich die Sprache des Hasses vernehmbar wird, der seinen gewohnten Gegenstand wiedergefunden hat. Es scheint, als würden Sprache und Redeweise der kollektiven Diskriminierung, die vor Auschwitz existierten und zu Auschwitz führten, ohne jede Schwierigkeit wiederkehren und sich als benutzbar erweisen.
Vielleicht sagen Sie jetzt, ich zeichne das Bild schwärzer als es in Wirklichkeit ist. Mag sein. „Oder ist es die einzige Lehre der Geschichte, dass der Mensch niemals lernt?“, fragt Churchill in seiner berühmten Zürcher Rede von 1946, „Let Europe arise!“. Ich bemühe mich zu glauben, dass es nicht so ist. Ich denke, dass die Veranstalter und Organisatoren dieser Ausstellung von dem gleichen Glauben geleitet sind. Dennoch musste ich von meinen Sorgen sprechen, und hätte ich sie unterdrücken müssen, dann könnte ich nicht sagen, dass ich in der freien Gemeinschaft eines Europa lebe, das Auschwitz erfahren hat.
Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen