: Iran: Neutral mit eigenen Interessen
Die Schiiten werden künftig an der Macht im Irak beteiligt sein – und damit auch deren Glaubensbrüder aus dem Iran
Zwei Raketen sind am vergangenen Freitag im Süden Irans, nahe der irakischen Grenze niedergegangen. Sie trafen das Lager einer Ölraffinerie. Die Detonation löste in der Stadt Abadan, in der sich die größte Ölraffinerie Irans befindet, ein Beben aus. Die Bewohner gerieten in Panik, Erinnerungen aus der Zeit des achtjährigen Kriegs gegen den irakischen Nachbarstaat wurden wach. Es gab zwei Verletzte. Eine dritte Rakete schlug am Samstag im Nordwesten nahe Sardascht ein.
Ein Sprecher des iranischen Innenministeriums erklärte, die beiden ersten Raketen seien amerikanischer Herkunft, die dritte Rakete stamme aus irakischem Arsenal. Zu den Raketeneinschlägen kam noch hinzu, dass amerikanische und britische Kampfflugzeuge während der Bombardierung der südirakischen Stadt Basra mehrfach den iranischen Luftraum verletzten. Irans Innenminister Abdolwahed Mussavi-Lari sagte, sollten weitere Verstöße gegen das iranische Territorium folgen, werde Iran entsprechend reagieren. Die Streitkräfte an der Grenze seien in höchster Alarmbereitschaft. Das US-Verteidigungsministerium hat inzwischen zu den Vorwürfen aus Teheran Stellung genommen. Es werde prüfen, ob die Raketen vom Kurs abgekommen seien. Bereits vor Kriegsausbruch hatte Iran seine Militärkräfte entlang der Grenze zum Irak erheblich verstärkt und die Grenzen zum Nachbarland geschlossen.
Außenminister Kamal Charrasi erklärte, sein Land werde unter keinen Umständen in den Irak eindringen, sich jedoch gegen jeden Angriff von außen zur Wehr setzen. Die iranische Staatsführung hat den Krieg mehrfach verurteilt, aber immer betont, sie werde sich nicht einmischen.
Doch die offiziell bekundete Neutralität kann über die direkte und indirekte Einmischung Irans nicht hinwegtäuschen. Die BBC meldet, bereits zwei Wochen vor dem Beginn der Kampfhandlungen seien rund 5.000 bewaffnete irakische Schiiten, die in Iran militärisch ausgebildet wurden, nach Nordirak gezogen. Die Milizen gehören der Bewegung al-Dawa an, die vor zwanzig Jahren durch das irakische Regime niedergeschlagen wurde und deren Führer 1980, zu Beginn des iranisch-irakischen Krieges, nach Iran geflüchtet waren. Sie bilden den militärischen Arm des Hohen Rats der Islamischen Revolution Iraks, der von Ajatollah Hakim gegründet wurde. Hakim wurde 1977 in Nadschaf, Zentrum der Schiiten, verhaftet. Auch er hält sich seit 1980 in Teheran auf.
Der Rat, der nicht nur unter den irakischen Schiiten, sondern auch in Iran über großen Einfluss verfügt, hat das Ziel, im Irak einen islamischen Staat zu gründen. Somit sind die Interessen der irakischen Schiiten mit denen Irans eng verknüpft. Vertreter der Schiiten haben sowohl an der Zusammenkunft irakischer Oppositionsgruppen in London als auch an direkten Gesprächen mit der amerikanischen Regierung in Washington teilgenommen. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die Schiiten mit einer wie auch immer gearteten Besatzung Iraks durch die USA einverstanden sind. Ajatollah Hakim hat erklärt, dass die Schiiten nach dem Sturz Saddams die Präsenz der USA in ihrem Land nicht dulden würden.
Sicher ist, dass die Schiiten im Irak künftig an der Macht beteiligt sein werden. Damit ist auch Iran mit von der Partie. Das erklärt die ambivalente Haltung Irans zum Krieg. Einerseits kann Iran die Anwesenheit der USA in seinem Nachbarland nicht gutheißen. Mit der Präsenz der USA im Irak würde sich der militärische Kreis, der über die gesamte Golfregion, Pakistan, Afghanistan, die ehemaligen Sowjetrepubliken am Kaspischen Meer bis in die Türkei hinzieht, schließen, was eine große Gefahr für die Islamische Republik, die aus amerikanischer Sicht zur „Achse des Bösen“ zählt, bedeuten würde. Andererseits gibt es für Iran keinen Grund, einen Sturz Saddams verhindern zu wollen. Im Gegenteil, der achtjährige Krieg mit dem Nachbarn ist längst nicht vergessen. Auch deshalb gibt es im Iran keine großen Antikriegsdemonstrationen.
Zudem hat Iran im Irak ökonomische und politische Interessen. Die künftige Politik Iraks innerhalb der Opec ist von großer Bedeutung. Iran wird genauso wie die Türkei versuchen, die Bildung eines kurdischen Staates zu verhindern. Beide Länder haben diesbezüglich Vereinbarungen zu enger Zusammenarbeit getroffen. Die einzige militante Organisation, die Volksmudschaheddin, die bislang mit irakischer Unterstützung vom Irak aus gegen die Islamische Republik agiert hat, würde ohne das Regime Saddams nicht mehr existieren können. Eine Machtbeteiligung der Schiiten im Irak würde den Einfluss Irans in der Region erheblich steigern.
All dies wäre nur durch einen Regimewechsel im Irak möglich. Das erklärt auch, warum Iran trotz verbaler Verurteilung der amerikanischen Invasion wie beim Afghanistankrieg mit dem „großen Satan“, den USA, einen geheimen Pakt über Hilfsleistungen geschlossen hat.
BAHMAN NIRUMAND
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