: Friedhof der Namenlosen
Auf einem kleinen Friedhof auf der Insel Düne werden all die Toten beerdigt, die das Meer an Helgolands Stränden anspült und die nicht identifiziert werden können
von ROGER REPPLINGER
Wenn du auf die Fähre gehst, lässt du was vom Schmerz an Land zurück. Du stehst an der Reling und guckst zurück und siehst ihn kleiner werden. So fühlt es sich auf dem Wasser leichter an. Ohne den alten ist Platz für neuen Schmerz da.
Zwei Fähren brauchst du, um zum „Friedhof der Namenlosen“ zu kommen. Die Fähre von Cuxhaven nach Helgoland, der Insel, die 60 Kilometer vom Festland entfernt in der Nordsee sitzt. Und du brauchst die Fähre von Helgoland auf die Düne. Außerhalb der Saison fährt sie immer zur vollen Stunde. Wenn du die letzte Fähre von der Düne zurück verpasst, kannst du gucken, wo du bleibst. Ein Kilometer von der Düne nach Helgoland.
In der Silvesternacht des Jahres 1720 trennte ein Sturm Düne und Helgoland. Auf der 0,7 Quadratkilometer großen Düne liegen Kegelrobben und Seehunde an den Stränden, hier ist der Flughafen der Insel, ein Campingplatz sowie ein altes und ein neues Bungalowdorf. Und der „Friedhof der Namenlosen“. Den Friedhof findest du hinter dem neuen Bungalowdorf. Aber es gibt auch Schilder.
Wenn du dort bist, schlägst du den Kragen hoch und setzt dich auf eine der Bänke. Du hörst die Wellen der Nordsee, die Möwen, den Wind, der dir sagt, dass du abhauen sollst, und die Arbeiten an den neuen Bungalows, die sich an den Friedhof heran schieben. Die Bungalows sagen dem Wind, dass die Menschen nicht auf ihn hören. Friedhöfe wie diesen gab es auf vielen Nordseeinseln und in vielen Städten an der Küste, die meisten bestehen nicht mehr.
Es war üblich, dass man Unbekannte dort bestattete, wo sie angeschwemmt wurden, und da die Elbmündung, die deutsche Bucht, ein gefährliches Revier ist und war, gab es Tote, die so lange im Wasser waren, dass man sie nicht mehr identifizieren konnte. Die liegen hier. „Würde heute eine Leiche angeschwemmt, und wäre trotz Zahnarzt und allen Tests nicht zu identifizieren, würden wir es genauso machen“, sagt Hans-Peter Holtmann. Holtmann, 63 Jahre alt, ursprünglich Tischler und Marinesoldat, heute als Betriebsleiter der Gemeinde Helgoland für die Düne zuständig, hat den Friedhof als Hain angelegt. Sanddornbüsche mit im Spätherbst hellroten Früchten, stehen schützend wie Bäume, die es hier nicht gibt, um Kreuze, Glocke und Gedenksteine.
Du gehst auf knirschenden Kieseln oder versuchst, auf vom Regen wie poliert glänzenden Bohlen das Gleichgewicht zu halten. Es gab immer einen Friedhof für die Helgoländer und einen für die Unbekannten. Die Helgoländer liegen auf Helgoland. Vor dem Zweiten Weltkrieg, als der Friedhof für die Unbekannten noch an einer anderen Stelle auf der Düne war, standen dort mehr als 20 Kreuze, ein paar mit Namen. Angeschwemmte Tote, die identifiziert werden konnten.
Am 18. April 1947 wollten die Engländer mit 6.700 Tonnen Sprengstoff, das war alles, was sie vom Zweiten Weltkrieg noch übrig hatten, die noch bestehenden militärischen Anlagen auf der von Bombenangriffen schon völlig zerstörten Insel Helgoland mitsamt Düne in die Luft jagen.
Als die Helgoländer im März 1952 nach langen, schwierigen Verhandlungen wieder auf die Insel zurück durften, fanden sie die von den Detonationen aus den Gräbern gerissenen Knochen der Helgoländer Toter auf dem Friedhof im Oberland. Sie wurden unter dem Altar der St. Nikolai-Kirche bestattet. Auf dem Friedhof der Namenlosen sah es genauso aus.
Seitdem wurden drei Namenlose angeschwemmt, die in einem gemeinsamen Grab unter ihren Holzkreuzen liegen. Auf den Kreuzen steht: 28 . 10. 1958, 17 . 12. 1958 und 30 . 07. 1961, das sind die Daten, an denen die Leichen gefunden wurden. Holtmann geht davon aus, dass Gerhard Ernst Mörchel, Pastor auf Helgoland von 1957 bis 1968, an ihren Gräbern gesprochen hat.
Das Meer ist ziemlich unsentimental. Erich-Nummel Krüss, der mit seinem Archiv im „Haus Sansibar“ auf Helgoland wohnt, hat viel vom Meer und erinnert uns an die Toten, die das Meer so verschluckt hat, dass es sie nicht mehr hergibt. „Da sind doch die Toten auf dem Friedhof der Namenlosen besser dran“, meint Krüss.
Manchmal steht ein Windlicht, liegen Blumen auf den Steinen und vor den Kreuzen auf dem „Friedhof der Namenlosen“. Wer sie hinlegt weiß man nicht. Es gibt einen Gedenkstein der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (GZRS) für die Besatzung des Seenotkreuzers „Adolf Bermpohl“, die am 23. Februar 1967 in einem Orkan, mit den Männer des niederländischen Fischkutters Burgemeester van Kampen, die sie gerettet hatten, in der Nordsee ertranken.
Auf der Bermpohl, die den Namen des Mannes trug, der am 29. Mai 1865 die GZRS mitgegründet hatte, starben vier Besatzungsmitglieder, von denen drei gefunden wurden und drei niederländische Fischer.
Ein Stein erinnert an die Schlacht hinter der Düne zwischen Preußen und Österreichern unter Admiral Wilhelm von Tegetthoff gegen die Dänen vom 9. März 1864. Dänemark verlor den Krieg, es war die letzte Seeschlacht mit Holzschiffen.
Ein Stein erinnert an Dr. Horst Hartmann aus Bad Godesberg. Hartmann war der Taucharzt, der im Oktober 1963 an der Rettung der unter Tage in einer Druckblase eingeschlossenen Bergleute von Lengede beteiligt war. Er gehörte zum Überwachungsteam des Unterwasserlabors „Helgoland“, das im Auftrag der Biologischen Anstalt Helgoland (BAH) betrieben wurde, und kam in der Kieler Förde bei einem Tauchgang am 21. September 1968 ums Leben.
Auf dem Gedenkstein für Hartmann stehen auch der Doktorand Karl-Heinz Schumann und der Student Winfried Kreytenberg, die am 6. Dezember 1969 in 25 Meter Tiefe südöstlich der Insel Düne bei Arbeiten am Unterwasserlabor ums Leben kamen. Schumann und Kreytenberg hatten die Aufgabe, die Verbindung zwischen Unterwasserlabor und Versorgungstonne zu lösen.
Hier steht auch ein Kreuz für Ernst Sadra, von dem Holtmann nicht weiß, „wer es aufgestellt hat und was es mit Helgoland zu tun hat“. Er bringt es nicht übers Herz, das Kreuz zu entfernen.
Für sie alle spricht der große Gedenkstein des Friedhofs, auf dem ein Gedicht steht. Es beginnt so: „Ihr Namenlosen im weißen Sand, den Nordseewogen umbranden, wie kamt ihr hier an diesen Strand, aus welchen fernen Landen.“
Dann gehst du zur Glocke, die etwas mit der Geschichte Helgolands zu tun hat. Am 1. März 1952 gaben die Engländer Helgoland an die Bundesrepublik Deutschland zurück, die evakuierten Einwohner kamen zurück, der Wiederaufbau begann. Daran erinnert die Gedenkglocke, gestiftet von der Firma J. F. Weule aus Bockenem im Harz.
Die auf Turmuhren und Glocken spezialisierte Firma gab es von 1836 bis 1966. Der Turm, in dem die Glocke hängt, besteht aus angeschwemmtem Spantenholz, also dem Rumpf havarierter Segelschiffe, das zu bearbeiten dem gelernten Tischler Holtmann leicht fällt.
Weit draußen liegen Düne und Friedhof. Wolken und Vögel kommen vorbei, dann und wann Menschen. Die Toten wollen nicht viel. Du nimmst die Fähre zurück nach Helgoland und dann die nach Cuxhaven, und lässt was vom Schmerz zurück. Weil ja, wenn du in Cuxhaven wieder an Land gehst, der Schmerz, der dort geblieben ist, wartet. Der alte Freund.
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