: Wer die Toten zählt
Dass Horrorfilme mit ihren fiktiven Gewaltdarstellungen zu realer Gewalttätigkeit Anreiz geben, wollen viele Studien belegen. Doch deren Autoren stützen sich auf fragwürdige Versuchsanordnungen, insofern sie die brutalen Szenen isoliert betrachten
von MANFRED RIEPE
Im Herbst 1993 töteten die beiden zehn Jahre alten Jungen Jon Venables und Robert Thompson den zwei Jahre alten James Bulger. Bilder einer Video-Überwachungskamera in einem Liverpooler Einkaufzentrum zeigten, wie die zwei Jungen das Kleinkind entführten. Kein Passant nahm daran Anstoß, dass der Kleine blutete. Offenbar glaubte jeder, die zwei brächten ihren kleinen Bruder nach Hause. Dreieinhalb Kilometer weiter prügelten die beiden ihr Opfer mit einer Eisenstange zu Tode.
So spektakulär wie der Mord war die Erklärung des Tatmotivs. „Das Video ‚Child's Play 3‘ verwirrte die zehnjährigen Robert Thompson und Jon Venables aus Liverpool so, dass sie den Zweijährigen James Bulger umbrachten“, schrieb Der Spiegel in seinem Jahresrückblick 1993. „Child's Play 3“ ist ein B-Horrorfilm, der auch unter dem Titel „Chucky 3“ bekannt ist. Im Mittelpunkt steht die Kinderpuppe Good Guy, die zunächst ein Verkaufsschlager ist. Doch in ihr wohnt der Geist eines Mörders. Bis die böse Puppe am Ende der dritten Fortsetzung vom Ventilator einer Geisterbahn zerstückelt wird, sterben fünf Menschen. Einer davon an Herzversagen.
Die deutsche Erstausstrahlung von „Chucky 3“ wurde im November 1993, kurz nach der Tat also, angekündigt. Obwohl der Film nur auf dem Pay-TV-Sender Premiere, das heißt verschlüsselt, gesendet werden sollte, löste die Ankündigung eine lebhafte Debatte aus. „Wie Sie wissen“, schrieb die damalige Bundesministerin für Familie und Frauen, Hannelore Rönsch, dem Sender, hat der Liverpooler Richter „Parallelen zwischen Szenen des Films und dem Tathergang gesehen.“
Diese Information hatte tags zuvor die Süddeutsche Zeitung verbreitet. Obgleich sich die Parallele zwischen Film und Mord der Äußerung des Richters zufolge auf eine vage „Vermutung“ reduzierte, ging der damalige medienpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Konrad Weiß, noch weiter: „Es ist eine unglaubliche Mißachtung der öffentlichen Debatte über Gewalt im Fernsehen“, hieß es in einem Fax, wenn Premiere „ausgerechnet den Film ausstrahlt, der für den Mord an einem zweijährigen Jungen in England offensichtlich als Vorlage diente.“ Der Vater des einen Jungen habe den Spielfilm „Chucky 3“ ausgeliehen, der, so Rönsch, „nach allem, was darüber bekannt ist, an entsetzlicher Brutalität nicht zu überbieten“ ist.
Sowohl die Ministerin als auch Weiß haben den Film offenbar nicht selbst gesehen, sondern sich auf Informationen Dritter gestützt. Dabei kann es sich nur um den allgemein zugänglichen Indizierungsbescheid der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) vom 8. Februar 1993 handeln. Darin wurde der Film als „gewaltverherrlichend und verrohend“ eingestuft. „Die Handlungsarmut bewirkt es, dass die Tötung der Menschen besonders langatmig ausgemalt wird.“ Da die Handlung des Films aber ebenso wenig wiedergegeben wird wie die Motive der Figuren, entsteht ein Bild, das keiner realistischen Zuschauersituation entspricht, sondern erst durch die verzerrte, auf die Tötungsszenen fixierte Wahrnehmung der Prüfer geschaffen wird. So wird im BPjS-Urteil schon die dramaturgische Konfliktsituation des Films denunziert: „Besonders pervers scheint mir hier die Tatsache, dass eine Puppe eine Metzelei nach der anderen ausübt, wobei im wirklichen Leben die Kinder den Puppen viel Vertrauen schenken.“
Wer überhaupt „Chucky 3“ ins Gespräch gebracht hatte, zeigte sich in einer Diskussionssendung, die Premiere auf den öffentlichen Druck hin der Erstausstrahlung am 10. Dezember 1993 folgen ließ. Dort sagte der emeritierte Augsburger Pädagogikprofessor Werner Glogauer, er habe den District Court in Liverpool brieflich auf den Zusammenhang zwischen Film und Mord hingewiesen. Innerhalb der Mediengewaltdebatte ist Glogauer kein Unbekannter: In Publikationen wie „Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien“ vertritt er die selbst im konservativen Lager umstrittene These, dass „mindestens jedes zehnte Gewaltverbrechen, das jugendlichen Tätern angelastet wird“, auf das Konto der Medien gehe. Für Glogauer bestand der Film aus einer „Aneinanderreihung von Gewalttaten“, Inhalt und Handlung interessierten ihn nicht.
Diese Dekontextualisierung ist ein wiederkehrendes Merkmal in Gewaltwirkungsstudien – so auch in der zeitgleich zur Diskussion um „Chucky 3“ entstandenen Schlüsselstudie von Jo Groebel, die „pure Gewaltakte“ als „Einzelbilder ohne größere szenische Einbindung“ definiert. Bekannt wurde Groebels „Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms“ durch die griffige Zahl von 70 Morden pro Tag. Ein realer Zuschauer jedoch kann so viele Tote beim besten Willen nicht zählen, weil die Studie auf einem Simultan-Zusammenschnitt von mehreren Programmen basiert. Die Prüfer schaffen erst die Versuchsanordnung, deren Ergebnisse sie anschließend beklagen.
Debatten über die vermeintliche Gefahr, die durch Gewaltdarstellung ausgeht, kehren zyklisch wieder. Buch-, Theater- und Filmzensur wie auch das Verbot von Videofilmen und schließlich die Forderung nach einem gewaltfreien Fernsehprogramm folgen dem immer gleichen Muster. So führte die Abschaffung der Buchzensur im 19. Jahrhundert zu dem Paradox, dass gedruckte Dramen zwar unzensiert gelesen werden konnten, ihre Aufführung jedoch eingeschränkt wurde. Der Gefahr einer Verbreitung unerwünschter – damals vor allem politischer – Botschaften begegnete man formalrechtlich dadurch, dass eine Theateraufführung als Versammlung definiert wurde, die einem Polizeiverbot mit Erlaubnisvorbehalt unterlag. Auf die Abschaffung der Theaterzensur im Jahr 1918 folgte die Verabschiedung des „Reichslichtspielgesetzes“ vom 12. Mai 1920: „Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden.“
In ihrer bemerkenswerten juristischen Arbeit über die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) aus dem Jahr 1958 fasst Johanne Noltenius diesen Vorgang zusammen: Es habe „den Anschein, als ob in dem Augenblick, in dem die Wirkung und Verbreitung eines Kommunikationsmittels durch die technische Entwicklung besonders gefördert wird, ganz automatisch die Forderung nach Kontrolle des Kommunikationsmittels erhoben wird“. Wie ein Blick auf die neueste Mediengeschichte zeigt, hat sich seit 1958 an der Richtigkeit dieser Hypothese nichts geändert.
Nachdem der Spaghetti-Western in den 70er-Jahren eine der ersten Debatten über Gewaltdarstellung provoziert hatte, galt die Auseinandersetzung zu Beginn der 80er-Jahre den so genannten Horrorvideos. Das Videoabspielgerät boomte in Deutschland so rasch wie in keinem anderen Land. Ab 1977 avancierte der VHS-Rekorder zum Verkaufsschlager. Zwischen 1977 und 1984 erfolgte eine kontinuierliche Absatzsteigerung, die im Jahr 1985 erstmals stagnierte – zu genau dem Zeitpunkt, als die Horrorvideo-Debatte ihren Höhepunkt erreichte.
In diesem Jahr wurde nicht zufällig auch der „Gewaltparagraf“ 131 so extrem verschärft, dass der „Videosumpf“ vollkommen trockengelegt werden konnte. Die Empörung gegen Gewaltdarstellungen folgte einer Doppelmoral und war, wie sich im Rückblick zeigt, unter anderem auch ökonomisch motiviert. Jene 1.000 Videotheken, die es 1980 in Deutschland gab, verliehen hauptsächlich so genannte B-Titel: „Video war ein neues Medium, das dem Verbraucher ein Programm bot, das er sonst nicht sehen konnte. Dabei handelte es sich in den Anfangsjahren zunächst um harte Action-Ware, Horrorfilme und Pornokassetten“, erklärt Kay Hoffmann in seiner Geschichte des Mediums Video. 1984 jedoch war die Marktkapazität dieser B-Titel erschöpft, und man begann, die Zweitverwertung großer Kinoerfolge auf Video voranzutreiben. Die Gewaltdebatte zeigte erst Wirkung, nachdem das Recordergeschäft abgeschlossen war.
Mit der Einführung des Privatfernsehens im Jahr 1984 kam es zu einer weiteren Verschiebung. Die B-Film-Masse zirkulierte nun zwischen Sat 1 und RTL (später auch Pro 7). „Wir haben Spielfilme gesendet, die vor uns zu Recht keiner gezeigt hatte“, erklärte der frühere RTL-Chef Helmut Thoma mit dem ihm eigenen populistischen Zynismus im Spiegel. Einen Grund dafür, warum die vehemente Horrorvideo-Debatte zunächst nicht aufs Privatfernsehen ausgedehnt wurde, nannte Edmund Stoiber 1993: „Das Ziel, die ‚Monopolanstalten‘ ARD und ZDF durch Programmvielfalt zu entautorisieren, wurde erreicht.“ Aber diese „Programmvielfalt“ bestand, zumindest in der Anfangsphase, in genau jenem „Schund“, den Angela Merkel später als moralisch verwerflich inkriminieren sollte. Kaum hatte auch das Privatfernsehen das B-Filmpaket erfolgreich ausgewertet, spukte das Gespenst der Gewalt auf der Mattscheibe. Denn nun wurden Groebels tägliche 70 Bildschirm-Tote lebendig, von denen schon die Rede war.
Mit dem Verfassungsgerichtsurteil vom Oktober 1992, welches das Verbot von Sam Raimis Horrorfilm „Tanz der Teufel“ als Rechtsbeugung einstufte, begann die Debatte um filmische Gewaltdarstellung abzuebben. Der Grund dafür ist der gleiche wie der, den Noltenius schon 1958 nannte. Inzwischen boomten neue Medien: der Computer und das Internet. Gegenwärtig soll die verrohende Wirkung vom Medium des Computerspiels ausgehen. Zwar haben Jugendschützer es schon seit vielen Jahren im Visier, doch erst seit das virtuelle Töten durch die stete Verbesserung der grafischen Benutzeroberfläche den Realismus eines harten Horrorfilms erreicht hat, ziehen die Spiele die Gewaltdebatte auf sich.
Als vor knapp einem Jahr, am 26. April 2002, der ehemalige Schüler Robert Steinhäuser in einem Erfurter Gymnasium ein Blutbad anrichtete, war in der Presse von Gewaltfilmen keine Rede mehr. Der Schütze benutzte – wenn wir der FAZ glauben – das Computerspiel „Half Life: Counter Strike“ als „Trainingssoftware“ und als „Handlungscode für den Amoklauf“. Auch im Hinblick auf das Schulmassaker von Littleton (Colorado), dem im April 1999 zwölf Schüler und ein Lehrer zum Opfer fielen, wird gemutmaßt, dass die beiden Täter sich auf ihre Tat unter anderem mit dem Computerspiel „Doom“ vorbereitet hätten.
Ein Ende der Debatte ist nicht in Sicht. Jeweils ausgelöst wird sie durch die wie ein Schock wirkende Einführung eines neuen Mediums. In dem Maße, in dem das neue Verbreitungsmedium Teil der Alltagskultur wird, verändert sich aber auch die Sicht- und Bewertungsweise der jeweiligen Ausdrucksformen von Gewalt. Diese Veränderung bedeutet keine Abstumpfung. Video-Kids, die vor 20 Jahren mit dem Videorecorder und dem Zombie am Glockenseil aufwuchsen, haben sich nicht zu Kettensägen schwingenden Massenmördern und Psychopathen entwickelt.
Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Autor im Rahmen der Tagung „Bodies that Splatter. Schnittstellen von Gewalt in Horrorfilmen 1963–1991“ halten wird. Die Tagung findet von heute bis Samstag in der Berliner Akademie der Künste satt. Programm unter www.bodiesthatsplatter.de
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