: Die Handelsreisende
Nach dem Mauerfall ist die Entertainerin Brigitte Ueberscher Vertreterin für Dessous geworden. Sie gehören zu den Luxusartikeln, die den Bruch zwischen kapitalistischem und sozialistischem System kitten sollten. Eine Hommage für die moderne Nomadin in neoliberalen Zeiten
von WALTRAUD SCHWAB
„Nur den Kopf nicht in den Sand stecken.“ – „Wer wagt, gewinnt.“ – „Morgen ist auch noch ein Tag“, sagt die Handelsreisende, denn Instant-Aufmunterungen kommen ihr leicht über die Lippen. Im Gespräch mit ihren Kunden flicht sie diese Sätze ein. Es gilt: „Auf Regen folgt Sonnenschein.“ So ringt sie dem Alltag das Besondere ab. So trotzt sie dem Niedergang. So hilft sie Durststrecken zu überwinden. Vor allem das. Denn als Handelsvertreterin hängt sie von einem Status quo ab, der andere knechtet. Als Nomadin hingegen weiß sie, dass alles immer im Fluss ist.
Brigitte Ueberscher heißt die Vertreterin. Eine von tausend in Berlin. Sie soll das Bild zurechtrücken, das der Branche anhängt. Ohne solche Versuche bleibt der Vertreter ein Verlierer. Wie Willy Loman einer ist. In „Tod eines Handlungsreisenden“ wird ihm ein Denkmal gesetzt. Zu alt, zu verbraucht, um noch zu verführen. Zwischen Provision, Musterkoffer und den gefahrenen Kilometern klafft eine Lücke. Am Ende entschwindet Loman im Auto, um sich auf der Straße umzubringen. So weit die Fiktion.
Ueberschers Wirklichkeit dagegen ist konkret. Im silbergrauen Passat fährt sie an einem Apriltag die Berliner Straßen entlang. Von Weißensee zur Schönhauser Allee. Vom Prenzlauer Berg zum Alexanderplatz. Dann über Charlottenburg nach Lichtenrade. Schnee wechselt ab mit gleißender Sonne. Draußen drei Grad. Im Auto zwanzig. Eine Leuchtdiode zeigt es an. Der Wagen ist neu. Geleast. Tausend Kilometer in der Woche fährt sie damit. Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und die anderen neuen Bundesländer sind ihr Repräsentationsgebiet. Es sind weite Wege. Der Autositz ist beheizbar. Gott sei Dank. „Mein Kreuz“, sagt die 49-Jährige mit den wild hochgesteckten Haaren. Sie ist stolz darauf, dass sie jünger aussieht, als sie ist. Dennoch: das Alter macht vor ihrer Gelenkigkeit nicht Halt. Als Göre in der DDR war sie auf dem besten Weg, eine Leistungssportlerin zu werden. Geräteturnen und Eiskunstlauf. Bis offenkundig wurde, dass etwas mit der Überzeugung der Eltern nicht stimmte. Das ist lange her.
Ueberscher vertreibt Dessous. „Pastunette“ heißen sie. Auch „mamselle“ und „rebel“. Die Namen kommen leicht daher. Mit Musik. „Mit einem Augenzwinkern“, sagt Ueberscher, die sich eigentlich Lady B nennt. So werden Wunder feilgeboten. Wie wenn ein Kind, dem ein unerwarteter Sonnenstrahl auf die Hand fällt, diesen der Mutter hinstreckt, um ihn ihr zu schenken. „Ich mache den Job mit Herz und Seele“, gesteht die Vertreterin. „Ich verkaufe die Kollektion und ich verkaufe ein Stück von mir.“ Morgens um 10 Uhr schleppt sie ihren Musterkoffer über die Schwelle von „Hautnah“. In dem kleinen Laden auf der Schönhauser Allee hängt das Darunter, das dem weiblichen Körper schmeichelt. In Weiß, in Cremefarben, in Schwarz. Mit Spitze, mit Verzierungen, en nature. Nancy Bach, Tochter des Mutter-Tochter-Ladens, ist mit einer Kundin beschäftigt, die schulterfrei ihr Jawort geben möchte. „Mit Cup D ist das so ne Sache bei trägerlosen BHs“, sagt Bach. Cup D – schwere Brüste. „Im Kaufhof ham’ se mir jeraten, ihn mit Sicherheitsnadeln an’d Kleid zu befestjen“, sagt die künftige Braut. „Mit Sicherheitsnadeln inne Ehe? Dann doch lieber mit doppelseitjem Klebeband? Wat meinen Se?“
Die Handelsreisende wartet im Lager hinter dem Verkaufsraum. An den Wänden Regale, darüber Bilder von lächelnden Frauen in Unterwäsche. „Schon was von Ostern gespürt“, fragt Ueberscher die Mutter, die das Hinterzimmer betritt. „Wir spüren noch nicht mal was von Weihnachten“, antwortet sie. Die Reisende, die weiß, dass es dem Einzelhandel schlecht geht, sitzt hinter ihrem geöffneten Musterkoffer. Büstenhalter und Slips in vorwiegend dunklen Tönen. Braun, rot – alles pastellig mit einem Schuss Grau. Ganz auf ihr Publikum eingestimmt, sagt sie jedoch: „Ich hatte letztes Jahr 38,57 Prozent weniger Verkauf.“ Gleiches Leid, geteiltes Leid.
Vertreterin und Kundin – ein prekäres Verhältnis. „Wie sind Sie mit der ‚Destination‘ zurechtgekommen?“, fragt die Reisende, nachdem die Braut endlich das Geschäft verlassen hat und sich auch die Tochter für ein Gespräch Zeit nimmt. Destination, Schicksal – wenig überraschend ist es ein Modell aus roter Spitze. „Die finde ich sehr schön. Das ist die richtige Push-up-Form“, antwortet Bach. Die Chance muss genutzt werden: „Ja, die richtige Balkonette-Form. Und ‚Marie-Jo‘ ist Top-Form. Im Programm bleibt auch ,Sensor‘, das Mikrofaserprogramm, und die ‚Destination‘ kommt noch in Schwarz.“ Die Handelsreisende gibt ihr Bestes, Tochter Bach aber greift nach einem dunkelblauen Modell. „Das ist erst im Oktober lieferbar“, sagt Ueberscher.„Oh, da melden wir uns noch mal. Wir haben ja noch alles voll. Wir können ja die Rechnungen nicht bezahlen“, entschuldigt sich die Mutter. „Na gut“, sagt die Vertreterin. „Haben Sie Recht. Haben wir auch nichts davon.“ Sie lässt sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, als sie den Musterkoffer schließt, ihn aus dem Geschäft und über das matschige Trottoir zieht und alleine ins Auto hievt. Es ist bis oben hin voll mit weiteren Schachteln und Kisten.
Das nächste Ziel: Zwei Läden auf der Prenzlauer Allee. „Ein Erstbesuch“, sagt Ueberscher. Pfenniggeschäfte sind es, wie sich herausstellt. Hier gibt es Bilderrahmen mit Engelsverzierungen, Milchkrüge, über die Marienkäfer kriechen, Plastikblumen, die, dem Tamagotchi-Prinzip gehorchend, bei falscher Pflege welken, Turnschuhe mit Kilometeranzeige und Unterwäsche. Die Marke „mamselle“ böte sich an, meint die Vertreterin. Der BH koste im Einkauf 2,50 Euro. Ihre Provision: 25 Cent. Aber die Vertreterin kommt unangemeldet. Der Chef ist nicht da. So geht es zurück auf die Straße, quer durch die Stadt. 2.000 Euro Umsatz muss Ueberscher am Tag machen, um mit ihrer 10-prozentigen Provision auf plus/minus null zu kommen. „Man muss die Miete bezahlen, das Auto, die Ware, die Übernachtungen. Ganz am Schluss kommen wir.“ Wir, das sind ihre Tochter, ihr Mann und sie.
Ueberscher ist nach dem Mauerfall Vertreterin geworden. „Ich habe eine neue Herausforderung gesucht“, sagt sie. In der DDR war sie im Unterhaltungsgewerbe, hat moderiert und gesungen. Hatte eine eigene Show, eigene Lieder. Ist aufgetreten auf Jubiläen und Festen. „Jeder Betrieb hatte seine Feierlichkeiten. Tag der Werktätigen, Tag des Chemiearbeiters, Frauentag.“ Ueberscher war „Einstufung C“ – höchste Kategorie. Pro Auftritt bekam sie 350 Mark. „Ich hab ja einen Lebensstandard gehabt. Aus DDR-Sicht hatte ich mit den Künstler-Größen zu tun. Frank Schöbel. Die Puhdys. Dagmar Frederik.“ Dann der Zusammenbruch der DDR 1989. Da war sie Mitte dreißig. „Zu alt für einen Neuanfang als Unterhalterin bei kapitalistischer Konkurrenz.“ Sie erzählt es ohne Wehmut, während sie sich auf dem Stadtplan die Route neu zurechtlegt und weiterfährt und wieder einen Parkplatz sucht und trotz dezenter Abfuhr im nächsten Geschäft nicht die Nerven verliert. Zurück ins Auto und die Straßen entlang und parken und Musterkoffer raus und Grüß Gott und Die-Geschäfte-gehen-schlecht und Kommen-Sie-nach-Ostern-wieder und Freundlich-sein. „So läppert die Zeit dahin“, sagt die Vertreterin. „Nichts Ungewöhnliches.“ Nach fünf Stunden Arbeit hat sie keinen Pfennig verdient. „Man muss genauso Künstler sein wie zu DDR-Zeiten. Dass das auf die Seele geht …“ Sie beendet den Satz nicht.
Das Wort „Vertreter“ hört man in der Branche nicht gern. „ ,Handelsvermittler‘, ‚Agenten‘ ‚Außendienstler‘, Vertriebsleute‘ – so rum wird ein Schuh draus“, sagt Birgit Marson, die Geschäftsführerin des Wirtschaftsverbands Handelsvermittlung und Vertrieb in Berlin (CDH). Kein Verführer sei der Handelsreisende, keiner, der uneingelöste Versprechen verkauft, sondern ein Aufklärer, ein Berater. Die meisten Vertreter sind Experten. Sie stellen Zusammenhänge her, analysieren die Wirtschaftslage und das Verhalten der Konsumenten. In Zeiten der Großkonzerne und der Globalisierung werde der Vertreter immer mehr zum „i-Tüpfelchen der Massenware“. Er muss die Nischen besetzen, die kleinen Produkte anbieten, die, die durch die Konzentration im Handel verloren gehen. „Der Handelsvertreter ist der Retter der Produktvielfalt. Er durchbricht das Marketing der Großkonzerne.“ Dafür nimmt er ein Nomadenleben in Kauf. 60.000 Kilometer fährt er im Jahr. Im Durchschnitt.
Dass das Leben nicht als Gerade verläuft, das weiß Ueberscher. Fünf Berufsausbildungen hat sie. Von der Empfangssekretärin über „Koch, Kellner und Ökonom“ zur Unterhalterin. Im Hotelfach hat sie ausgelernt, aber ihr wurde gekündigt. Hotel – das heißt internationale Kontakte. In der DDR ein scharf überwachtes Feld. Ueberscher galt als politisch unzuverlässig, obwohl ihr aus heutiger Sicht anhängt, dass sie als IM geführt wurde. Nur gesungen habe sie immer gern. Ihr Stimmumfang umfasse mehrere Oktaven. „Mit der Wende ist so viel zerbrochen“, seufzt sie. Ueberscher ist ihrem Sinn für die sinnliche Nuance gefolgt und bei Dessous, dem versteckten Luxus, gelandet. In einem Bauwagen hat sie angefangen. „Da habe ich meinen Ostleuten erst mal gezeigt, wie man so was überhaupt anzieht.“
Nachmittags kommt Ueberscher endlich in einem Geschäft an, wo sie willkommen ist. „Viabella“ heißt es. Schönstraße? Straßenschön? Der Handelsreisenden wird die Tür aufgemacht, damit sie den Koffer hineinschieben kann. Sie wird umarmt, auf die Wangen geküsst. „Trinken Sie eine Brühe mit“, fragt Inge Quantmeyer, die Besitzerin. Gerne willigt Ueberscher ein. Zum Essen ist sie noch nicht gekommen. Die beiden Frauen tauschen Neuigkeiten aus. Vom Leben, den Krankheiten, den Kindern. Über eine Frau wird sich entrüstet, die ihr Abendkleid in Polen kaufte, „nichts dagegen, mein Mädchenname ist polnisch“, aber dass sie die Dessous vier Wochen zurückgelegt haben wollte, das war zu viel. „Das war ne Hungerharke, die kriegt ja nie mehr ein Torselet, das so gut sitzt.“ Später wird Quantmeyer für 500 Euro Ware bestellen. Wie auch Ingrid Rothmann, die letzte Kundin des Tages in Lichtenrade. Sie sieht der Handelsreisenden ihre Künstlervergangenheit an. „Schon wie Sie die Teile in der Hand halten! Ich könnte stundenlang zusehen“, sagt sie.
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