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Schröder steht vor Ankara

Der Bundeskanzler verspricht der Türkei bei seinem Besuch in Ankara Unterstützung bei der Aufnahme in die Europäische Union und lobt die Regierung Tayyip Erdogans für ihre Reformpolitik

ISTANBUL taz ■ In aller Deutlichkeit hat gestern erstmals ein deutscher Bundeskanzler in Ankara erklärt, dass er die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union unterstützt. „Die Türkei kann sich auf uns verlassen“, erklärte Gerhard Schröder im Anschluss an ein Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan. „Wenn die EU-Kommission im Herbst die Aufnahme von Verhandlungen empfiehlt, werden wir dafür eintreten, dass die Gespräche unverzüglich beginnen.“ Die EU, so Schröder, müsse zu ihrem Wort stehen: „Wenn die Türkei die Kriterien erfüllt, müssen die Beitrittsgespräche beginnen.“

Schröder lobte ausdrücklich die amtierende Regierung von Erdogan, die seit knapp zwei Jahren nun mit einem hohen Tempo die notwendigen Reformen für den Beginn von Gesprächen durchführen würde. Ausdrücklich hob Schröder das Engagement Erdogans bei der Lösung der Zypernfrage hervor. „Wie Sie sich für eine politische Lösung auf Zypern eingesetzt haben, ist in ganz Europa positiv registriert worden.“

Pflichtgemäß mahnte Schröder zwar auch die praktische Umsetzung der Reformen an, schickte dann aber gleich hinterher, er gehe davon aus, dass der neue Geist der Regierung sich auch in der Verwaltung und Justiz durchsetzen werde.

Die türkische Regierung zeigte sich über Schröders Aussagen hocherfreut. Erdogan dankte dem Kanzler mehrmals für seinen Einsatz und bekräftigte, dass man sich in diesem Jahr intensiv auf die „Implementierung“ der Reformen konzentrieren werde. Er kündigte an, dass die letzten Hindernisse für die Ausstrahlung kurdischer Fernsehsendungen und kurdischer Sprachkurse beseitigt würden.

Schröder, der mit einer großen Wirtschaftsdelegation in die Türkei kam, trat gestern Abend gemeinsam mit Erdogan bei einem Wirtschaftsforum in Istanbul auf. Die Türkei hofft auf mehr deutsche und andere ausländische Direktinvestitionen, vor allem wenn die EU ein positives Signal gibt. Heute wird Schröder in Iskenderum ein Kohlekraftwerk einweihen, das die Essener Steag gebaut hat und in dem 1,5 Milliarden Euro Investitionen stecken.

Während Schröder in der Türkei die Position der Bundesregierung festlegte, ging in der Heimat die Debatte um die EU-Perspektive der Türkei heftig weiter. In einem Interview bekannte Bundespräsident Rau, dass er gegenüber dem türkischen EU-Beitritt skeptischer sei als die Bundesregierung: „Das wird wohl noch lange dauern.“ In Ankara beeilte sich Regierungssprecher Thomas Steg zu betonen, es gebe keinen Dissens zwischen Schröder und Rau. Auch die Bundesregierung gehe davon aus, dass ein Beitritt der Türkei noch lange nicht bevorstehe. Oppositionspolitiker mahnten dagegen, die Regierung müsse die kritischen Worte des Bundespräsidenten ernst nehmen.

Als Ministerpräsident Erdogan auf der Pressekonferenz mit dem Kanzler gefragt wurde, wann er mit einer Vollmitgliedschaft rechne, sagte er, das sei nicht so wichtig. Wichtig sei, dass der Prozess Ende des Jahres beginne. Nach einer vom Spiegel veröffentlichten Umfrage sind 57 Prozent der Deutschen dafür, dass die Türkei „mittelfristig“ Mitglied der EU wird.

In Deutschland lebende Türken begrüßten Schröders Türkei-Erklärung. „Nach jahrelangem Hin und Her verdient die Türkei eine aufrichtige und faire Behandlung“, sagte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Hakki Keskin.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

brennpunkt SEITE 3

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