normalzeit: HELMUT HÖGE über notwendige Fraternisierungen …
… oder warum Setzer die Avantgarde der Arbeiterbewegung wurden
Der seit 1988 in Westberlin lebende Lektor und ehemalige Deutsch-Dolmetscher der chinesischen Parteispitze Zhou Chun wurde 1957 für 22 Jahre in Umerziehung geschickt. Auf dem Weg nach unten – zum Feldhüter und Mistsammler – steckte man ihn zunächst in die Setzerei seines Verlags: „Eine jämmerliche Bude, eng, schmutzig und chaotisch“, die Arbeiter waren „grob, vulgär und egoistisch“. Zhou Chun schützte sich sogleich mit einer „Haltung“, die er als „apathisch, distanziert und zurückgezogen“ bezeichnete. Im Endeffekt war „die Setzerei die Hölle“ für ihn. Umgekehrt verachteten aber auch die Setzer die Redakteure, „die bequem im Sessel sitzen und Tee trinken“. Besonders beleidigend empfand Zhou Chun die Arbeiterinnen. Einmal drückte ihm eine Kollegin eine Schüssel in die Hand, dann holte sie ihre Brüste raus, um sie abzupumpen: „Vor Schreck ließ ich die Schüssel fallen.“ Es war für ihn der Gipfel an proletarischer Unanständigkeit!
In der Westberliner taz war dagegen sogar das kollegiale Vögeln unter der Betriebsdusche „gewollt“. Zuvor waren die Setzer der Mercatordruckerei des Tagesspiegels die unanständigsten gewesen: Immer wieder streikten sie – gegen ihren cholerischen Chef Karl Maier, der einmal sogar wegen eines kleinen Aufklebers in der Setzerei „Reagan verpiss dich – keiner vermisst dich“ ausrastete: Schon am nächsten Tag musste wieder die Polizei – als Streikbrecher – anrücken. Dafür solidarisierten sich jedesmal die Prostituierten der Potsdamer Straße mit den Setzern, Metteuren und Druckern – und gaben ihnen 25 Prozent Rabatt. Zuletzt gab Maier einen Ukas heraus, mit dem er ein Fraternisierungsverbot der Kopfarbeiter mit den Handarbeitern durchsetzen wollte. Dazu stellte er vor allem „rückgratlose, junge Redakteure oben ein“, wie ein Drucker meint. Unten bescheinigte dagegen ein Arbeitsgericht einem Setzer einmal: „Es besteht keine Verpflichtung des Klägers zu einer positiven Arbeitseinstellung.“ Immerhin hätte Maier aber in fast allen Prozessen Recht bekommen, schrieb sein Leitartikler Mathes hernach. Der Betriebsrat rechnete ihm daraufhin vor: „Von 103 Arbeitsprozessen hatte Maier 94 verloren und 3 waren unentschieden ausgegangen.“
In den 80er-Jahren traf ich auf IG-Medien-Veranstaltungen mehrmals Mercator-Setzer und -Drucker: Im Gegensatz zu uns Journalisten kamen sie mir besonnen und welterfahren vor. Ich begriff, warum die Setzer – als ständig lesende Proletarier – die Avantgarde der Arbeiterbewegung geworden waren. Ein richtiger „Kontakt“ ergab sich jedoch erst als Redakteur – mit den taz-Setzern Uli und Georg. Letzterer war als taz-Mitgründer vor allem durch seine „Säzzer-Bemerkungen“ bekannt geworden, eigentlich eine Erfindung der Setzer der ersten sozialdemokratischen Zeitungen im 19. Jahrhundert. In einigen Blättern wurden daraus später Abdruckrechte für eigene Artikel – an Stelle von Überstundenvergütungen.
Für mich waren die beiden taz-Setzer bald Respektspersonen. Gegenüber Chefredakteuren und Ressortleitern waren Streitereien fast Verpflichtung, gegenüber Georg und Uli verfiel ich jedoch eher auf höfliches Bitten – und sie bei sich näherndem Satzschluss aufs Drohen. Mehrmals bekam ich sogar zu hören – wenn ich mich bei einer Manuskriptlänge verzählt hatte: „Das hat nicht 140 Zeilen, sondern 220 – und die nimmst du jetzt auch rein, ich will sie nicht umsonst gesetzt haben.“ Also musste ein 80-Zeiler dafür raus!
Auch sonst schienen sie sich einig zu sein, dass der angehende Redakteur erst durch allerlei Erziehungsmaßnahmen eingepasst werden musste. Dies schien mir sowohl projektfunktional als auch politisch sinnvoll zu sein. Zudem dienten die Setzer der taz eher namenlos und auf Dauer, während die Redakteure sich über ihre Signaturen und Kürzel ständig selbst weglobten. In den ersten zehn Jahren wurde das noch durch den so genannten „Einheitslohn“ kompensiert – und die Hierarchien erstreckten sich – politisch aufgeladen – gleichsam in der Horizontalen. Dies übrigens auch taz-architektonisch: In der Wattstraße befand sich alles auf einer Etage, in der Kochstraße über sechs verteilt.
Nach wie vor scheinen mir die Nichtsignierenden „projektorientierter“ zu denken als die sich individualperspektivisch ausrichtenden Schreiber. Derzeit befassen sich gerade zwei Filmteams mit ihren komischen Werdegängen.
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