: Andenken an Bremens Tyrannen
Bürgermeister Smidt war weder Monster noch Held: Im Jahrbuch des Staatsarchivs gelingt erstmals eine kritische Würdigung, die weder Schmutzecken noch Leistungen Smidts verdrängt
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Das Bremische Jahrbuch ist kein klassisches Weihnachtsgeschenk und auch der frisch publizierte Band 87 hält sich strikt an die Tradition: Als schieres Lesevergnügen kann man auch ihn nicht bezeichnen. Aber eine Pflichtlektüre für jeden, der sich mit der Historie des kleinsten Bundeslandes befasst – das ist er diesmal schon. Er widmet sich nämlich hauptsächlich der Zentralfigur der Bremischen Geschichte. Und: Erstmals entwirft er ihr Bild realistisch-kritisch.
Denn Bürgermeister Johann Smidt war unbestreitbar vieles. Er war Gründer Bremerhavens, Bewahrer der Selbständigkeit, Gegner der Zensur und ein gewiefter Diplomat. Aber kein Held. Und wohl auch kein Monster. Auch dass seriöse Geschichtsschreibung seit den 1970er Jahren mehr und mehr auf Smidts überbordenden – und in lokalhistorischen Schriften der 1920er Jahre gefeierten – Antisemitismus fokussiert, läuft nämlich auf eine unzulässige Reduktion hinaus: Es gab – das lässt seine Hetze und Repression so besonders schrill erscheinen – in Bremen seinerzeit exakt 21 jüdische Familien ohne und einen Kaufmann mit Bürgerrechten, deren Ausweisung Smidt mit den Senatskollegen betrieb. Für die Legalisierung der Vertreibungsaktion antichambrierte, ja kämpfte er beim Wiener Kongress mit viel Energie. Erschöpft hat sich sein Wirken darin nicht.
Die Betonung der Dreck-Ecken, die Freude über jeden Taubenschiss auf dem Denkmal am Heuß-Platz und die Hoffnung, dass seine Statue im Rathaus künftig wenigstens eine rote Nase umgebunden bekommt, gehören allerdings zu den dringend notwendigen Umbaumaßnahmen am von der Nachwelt konstruierten Bild, dem Smidt in den Köpfen. Begonnen hat sie der Bremerhavener Stadtarchivar Karl H. Schwelbel. Vollendet ist sie noch nicht: Wieder geistert das Phantom vom „Staat im Staate“ durch die Debatten: Parallelgesellschaft nennt man das heute. Noch immer heißt eine Kirche nach ihm. Noch immer teilen Bremer Bürgermeister den Ehren-Medaillen-Empfängern zwanghaft mit, sie stünden nun in einer Reihe mit ihrem Erstinhaber, dem großen Antidemokraten und Verfassungsfeind. Ohne freilich zu erwähnen, dass dessen „Exitus“, wie Andreas Schulz in seinem Jahrbuch-Beitrag über Bremens Beziehungen zum Deutschen Bund klarstellt, 1857 wohl „weithin als Befreiung empfunden“ wurde. Und noch immer propagiert die Stadt Bremerhaven kritiklose Huldigungen von Hobby-Geschichtsklitterern.
So findet sich auf der Webseite ausgerechnet ihrer – eigentlich ja als Kultur- und Bildungseinrichtung firmierenden – Stadtbibliothek der Smidt-Artikel aus Monika M. Schultzes hagiografischem Nachschlagewerk „Bremerhavener Persönlichkeiten“. Obwohl 2003 überarbeitet, spinnt es doch ohne Abstriche die goldene Legende fort, die prominente Amtsnachfolger Smidts wie Theodor Spitta und Wilhelm Kaisen maßgeblich mitgestaltet haben, und der zur Heiligen-Vita allenfalls die Wunder fehlen.
Staatsarchiv-Leiter Konrad Elmshäuser hat diese Rezeptionsgeschichte gut nachvollziehbar in seiner Einleitung zu dem Band zusammengefasst – leider fast ohne das Augenmerk auf Smidts eigene Nachruhmpflege zu lenken. Hier wäre die Ikonografie von besonderer Bedeutung gewesen. Denn von Smidts maßloser Eitelkeit kündet nicht zuletzt die im Rathaus deponierte Statue, für die er selbst Modell gestanden hat: Eine weiße Plastik, lebensgroß, natürlich aus Marmor, Carara, vom Feinsten, die 1848 fertig gestellt, wenn auch erst nach Smidts Tod enthüllt werden durfte.
Schade, aber entschuldbar. Denn die Beiträge stammen von der Konferenz zum 150. Todestag. Und die verfolgte kein primär biografisches Ziel: Der „innerdeutschen Diplomatie“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt das Forschungsinteresse. Und auch aus den von ihr untersuchten schriftlichen Dokumenten spricht die penetrante Selbstliebe des Aufsteigers Smidt mit überragend lauter Stimme. Nicht zuletzt durch die – schon von gleichwertig gebildeten Zeitgenossen monierte – stilistische Arroganz von Smidts Beiträgen fürs „Hanseatische Magazin“.
Wie dieser Kotzbrocken, dessen „intrigantes und überthätiges Wesen“ Lübecker Senatoren schon früh übel aufstieß, tatsächlich für den Ministaat Bremen bei Verhandlungen mit anderen Mächten regelmäßig Maximales rausgeholt hat, wie er beim Wiener Kongress und beim Frankfurter Bundestag die Sache der Stadtstaaten geführt hat – das ist und bleibt eine spannende Geschichte. Das macht ihn auch zu einer der „bedeutendsten Persönlichkeiten“ der Lokalhistorie. Und viele ihrer Facetten blättert das Jahrbuch auf. Sein größtes Verdienst aber: Es macht die Bedingungen kenntlich, unter denen ein solcher Mensch seine Wirkung entfalten konnte. „Der Bremer Senat“, heißt es an einer Stelle, fällte seine Entscheidungen „unter Ausschluss der bürgerlichen Öffentlichkeit“, was „ganz im Sinne Smidts ein effizientes ‚Durchregieren‘“ ermöglicht hat. Klar: Stets „im Interesse des durch die politische Elite definierten Gesamtwohls“.
Hanna Arendt hat diese „Vernichtung des öffentlichen politischen Bereichs“ einst als wichtigstes Merkmal der Tyrannei beschrieben. Zu der scheinen gerade kleine Gemeinwesen mit ihrer natürlich beschränkten Zahl von Akteuren einen besonderen Hang zu haben, gerade wenn die gerne ihre persönliche Größe zur Geltung bringen. Zumal in Stadtstaaten sind solche Verhältnisse denk- und herstellbar und mitunter auch zu beobachten. Sogar noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Bremisches Jahrbuch, Bd. 87, 352 Seiten, 25 €
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