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berliner szenen Auf Plattenversteigerung

Erwerben oder zerstören

Wie wär’s mit Österreichern, die in den frühen Achtzigern bierernst und vor gebrochener James-Brown-Rhythmik „Deutschen Soul“ besangen? Na? Eine Hand geht hoch und die Single über den Tisch. Der Erwerb von Platten ist ein Weg, eine reifere Persönlichkeit zu werden, und wird gerade im Kaffee Burger beschritten. Herr Charan Lelev Ose und Frau Feinkeim führen durch die Versteigerung. Sie haben die Idee aus Hamburg mitgebracht und beherrschen die edle Kunst, pures Gold und pure Scheiße mit stoisch-protestantischer Sachlichkeit vorzuspielen und Gebote zu taxieren. Es gibt gefühlvollen West-Coast-Rock, pralle House-Maxis, vergessenes NDW-Zeugs oder die taufrische Angie Reed.

Es folgt Citys „Am Fenster“. Sie habe sich schon damals, als man es in den Provinzdiscos ihrer Heimat spielte, besudelt gefühlt, sagt Frau Schmitz, die neben mir steht und nun „Zerstören!“ ruft. Denn das ist raue Sitte dieses Abends: Was unversteigerbar ist, wird zerbrochen. Niemand winkt. Zum Ersten? Nein. Zum Zweiten? Nichts. Und auch zum Dritten will niemand das schwärmerische Ost-Gefiedel haben.

In Kreuzberg schmeißen sie gerade mit Steinen und zünden Autos an. Alles Touristen, heißt es. Woran man gerade am 1. Mai Touristen als Touristen erkennt, will ich wissen. „Die fragen nach dem Weg.“ Im Burger wird nicht Revolution, sondern Marktwirtschaft inszeniert, also nach dem Preis gefragt. Die Keimzelle der Hamburger Schule steht zu Gebot, die erste Single der Kolossalen Jugend. Ein dicker Fisch. Müde tröpfeln die Gebote. Ein Mann, der sonst goldene Zitronen benutzt, um der Welt den Spiegel vorzuhalten, hält sie dann in den Händen. Für zwei Euro fünfzig. E-bay hätte einen Systemabsturz erlebt.

NILS MICHAELIS

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