: Die Brücke am Fluss
AUS GÜLPE SANDRA LÖHR
Draußen vor dem Fenster flattert eine schwarz umrandete Fahne im Februarwind. Städte und Gemeinden in Not, steht da drauf. Und eigentlich ist das schon die ganze Geschichte, denn hier im brandenburgischen Rhinow geht es schon längst nicht mehr nur um eine kaputte Brücke beim Ortsteil Gülpe, die vom Jahrhunderthochwasser beschädigt wurde, sondern um etwas ganz anderes. Wenn man es dramatisch ausdrücken wollte, könnte man sagen, dass es für die einen ein Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit ist, während es für die anderen um die Erhaltung einer geschützten Naturlandschaft geht.
Das westliche Havelland, nur knapp 80 Kilometer von Berlin entfernt, ist seit 1976 von der Unesco als „Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung“ anerkannt. Hier gibt es nicht viel, an dem man sich festhalten könnte. Nur Schilf, Wiesen und Wasser bis zum Horizont. Die Landschaft ist flach und wird nur von kleinen Straßen durchschnitten, an denen vereinzelt Dörfer liegen. Im Frühjahr nisten Störche auf den Hausdächern, und im Winter ist der Boden nass, und die Feuchtigkeit kriecht mit dem Wind unter die Jacke. Der Naturpark Westhavelland ist ein Naherholungsgebiet; ein kleines Paradies für Städter. Aber nicht für Gerd Jendretzky.
Gerd Jendretzky ist Amtsdirektor in Rhinow, einem Ort mit 2.000 Einwohnern, und keiner, der seine Worte mit Bedacht wählt oder unnötigerweise verkleidet. „Die Natur schützt man, aber die Menschen lässt man hier vor die Hunde gehen! Der Naturschutz hat im Zusammenhang mit dem Brückenbau doch die Bedeutung von einem Pups im Weltall!“, sagt er und man spürt seine Wut darüber, dass das ein paar Leute anders sehen. „Die da oben, die haben doch gar keine Ahnung, wie es uns hier geht“, sagt er weiter, und es ist nicht ganz klar, wen er damit meint. Die Politiker in Potsdam und Berlin? Oder die Städter und Naturschützer, die ihm in den letzten Monaten das Leben schwer gemacht haben?
Er sitzt in seinem Arbeitszimmer und raucht eine f6-Zigarette nach der anderen und erzählt vom Sommer 2002 und davon, dass es hier in der Region aussah, als wäre gerade der Dritte Weltkrieg ausgebrochen.
Damals, in den Tagen, als es nicht aufhören wollte zu regnen und sich in Osteuropa, Sachsen und Bayern kleine Bäche in reißende Ströme verwandelten und Häuser, Bäume, Autos und Menschen mit sich rissen, hatte die Region zunächst Glück. Es gab keine Überschwemmungen. Als aber in Dresden die Elbe auf die Rekordmarke von 9,40 Meter stieg und die Innenstadt überflutete und sich danach das Wasser immer weiter nach Norden wälzte, sah es schlecht aus für den nahe gelegenen Stadt Wittenberge, die drohte überflutet zu werden. Da entschloss man sich, die Region der unteren Havel in Brandenburg zu fluten, damit das Wasser in die dortigen Feuchtgebiete sickerte. Alle entstehenden Schäden würden natürlich hundertprozentig ersetzt, hieß es aus den zuständigen Ministerien.
Das Wasser kam, rund um Rhinow wurden Straßen überflutet und es stand in manchen Dörfern bis knapp vor den ersten Wohnhäusern. Auch eine alte Holzbrücke, die über einen Seitenarm der Havel auf eine Insel führt, wurde so beschädigt, dass sie danach für den Verkehr gesperrt wurde.
Aber Gerd Jendretzky machte sich keine Sorgen, denn bei einem Besuch im September 2002 hatte Ministerpräsident Platzeck noch einmal zugesagt, dass das Land für die Beseitigung der Hochwasserschäden sorgen werde und die EU bereits Gelder zur Verfügung gestellt habe. Mit den Geldern wurden die Straßen wieder aufgebaut und die Bauern bekamen Ausgleich für die entgangene Ernte.
Nur die Havelbrücke steht bis heute nicht, obwohl für Gerd Jendretzky die Sache klar ist. Da die alte Holzbrücke so schwer beschädigt war, dass man sie wegen der Hochwasserrichtlinien nicht wieder aufbauen konnte, muss eine neue Brücke her. Aber dieses Mal soll es etwas Richtiges sein. Keine klapprige Holzkonstruktion, wie sie von sowjetischen Soldaten aufgebaut worden war, sondern eine richtige Brücke mit viel Stahl und Beton, die nach neuestem Standard gebaut werden und für Jahrzehnte halten soll.
Also reichte er Anfang 2003 die Pläne für die neue Brücke bei dem Ministerium für Landwirtschaft, Umweltschutz und Raumordnung des Landes Brandenburg ein und bekam im Mai 1,1 Millionen Euro aus dem EU-Hochwasserfonds bewilligt. Zwar hatte er noch keine endgültige Baugenehmigung, da für diese aber dasselbe Ministerium zuständig war und er laut den Förderbestimmungen die Brücke bis Ende 2003 gebaut haben musste, beauftragte er ein Ingenieurbüro mit der Planung. Es werde schon klappen, dachte er sich.
Doch dann fingen die Probleme an. Zunächst hieß es von der zuständigen Umweltabteilung, dass die Brücke eigentlich gar nicht gebaut werden könnte, da sie gegen die Naturschutzbestimmungen verstoßen würde. Dann gab es Anfragen von Naturschutzverbänden und als das Projekt im November in der Gemeinde bekannt wurde, auch Einwände von Bewohnern. Ob die Brücke in dieser Größe wirklich sein müsse? Ob man das Geld denn nicht an anderen Stellen in Rhinow und Umgebung dringender brauchen könnte? Und die grüne Bundestagsabgeordnete Cornelia Behm sprach von Steuerverschwendung, da sich auf der Insel neben einigen Wiesen nur eine kleine wissenschaftliche Station der Uni Potsdam befinde, die ein eigenes Boot zum Überqueren des Flusses besitze.
Für Gerd Jendretzky liegt die ganze Sache völlig anders. „Wenn die Brücke nicht kommt, dann sieht es ja für uns hier noch schlechter aus.“ Die Region ist neben der Uckermark und der Prignitz so etwas wie das Armenhaus Brandenburgs. Fast jeder Dritte ist arbeitslos, und weil es auch keine Ausbildungsplätze gibt, ziehen immer mehr junge Leute weg. Der Berliner Speckgürtel ist zwar nicht weit entfernt, aber wegen der schlechten Straßen- und Bahnverbindungen für viele hier zu weit weg, um täglich dorthin zur Arbeit zu fahren. Vor ein paar Wochen wurde die Bahnlinie nach Rhinow stillgelegt. Wer hier hinwill, fährt mit dem Zug bis Rathenow und nimmt dann einen Bus. „Bald knipsen sie uns hier ganz das Licht aus“, sagt Gerd Jendretzky und meint das wörtlich. In einigen Dörfern würde man schon überlegen, ob man nicht abends um elf die Straßenlaternen ausschalten sollte, um Geld zu sparen. „In den letzten beiden Jahren mussten wir hier in der Kommune Kürzungen von jeweils 300.000 Euro verkraften. Woher sollen wir denn das Geld nehmen?“, fragt er. Und ausgerechnet der Agrargenossenschaft Gülpe, mit 38 Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Region, würde man mit der zerstörten Brücke die Existenzgrundlage entziehen. 760 Hektar werden von ihr bewirtschaftet und allein 380 Hektar davon liegen auf der Havelinsel.
„Wenn die neue Brücke nicht kommt, dann können wir hier doch zumachen. Die Region stirbt sowieso schon hier“, sagt Heike Franke. Sie ist 42 Jahre alt und arbeitet seit 20 Jahren bei der Genossenschaft. „Die Brücke muss kommen“, bekräftigt sie noch einmal, und es klingt fast trotzig. Zwar hat die Agrargenossenschaft keine Felder auf der Insel und muss nur zweimal im Jahr dorthin, einmal Ende Juni und einmal im Herbst, um die Wiesen zu mähen. Anderes Zusatzfutter könne die Genossenschaft trotz Subventionen nicht bezahlen, sagt sie. Also müsse die neue Brücke her. Genau wie Gerd Jendretzky kann sie die Vorwürfe, dass die neue, große Brücke die einzigartige Flusslandschaft verschandeln würde, nicht mehr hören. „Dieser Vorwurf kommt doch hauptsächlich von den Zugezogenen“, sagt der wütend; also hauptsächlich von den Berlinern, die sich in den letzten Jahren ein Häuschen in der Gegend um Rhinow gekauft haben und hier ihre Wochenenden und Ferien verbringen. Also Menschen wie Tilman Aretz, der mit seiner Familie regelmäßig aus Berlin kommt und den es ärgert, dass man dieses Paradies mit einer Betonbrücke verschandelt, wie er sagt. „Ich verstehe nicht, warum man nicht einfach die alte Holzbrücke wieder aufbaut oder jedenfalls durch eine Brücke ersetzt, die sich in die Landschaft einpasst. Die neue Brücke soll doch nur so gigantisch ausfallen, weil das Geld eben da ist. Man könnte das Ganze sicher sehr viel billiger und kleiner bauen.“
Gerd Jendretzky sagt, dass er nichts gegen Naturschützer und Zugezogene habe, aber warum verstehen die nicht, wie schwer es die Gegend hat, überhaupt auf die Beine zu kommen und wie wichtig für die Menschen die Brücke ist?
„Am liebsten wäre diesen Ursprünglichkeitsfanatikern doch, wir hätten hier nur Sandstraßen und würden alle mit einem Lendenschurz und einer Banane im Mund rumlaufen!“, sagt er. Jetzt hat er die Pläne überarbeitet und die Brücke kleiner machen lassen. Rund 600.000 Euro soll sie jetzt kosten und wenn nichts dazwischen kommt, dann wird sie in diesem Jahr gebaut. Die zuständige Behörde habe ihm das nach fast einem Jahr Tauziehen zugesichert. Verstehen tut er die ganze Aufregung und die Vorwürfe wegen der Steuerverschwendung nicht. „Natürlich hätten wir die Brücke niemals gebaut, wenn wir sie aus dem Gemeindeetat bezahlen müssten. Aber wenn wir das Geld nicht abrufen, dann geht es doch in irgendein anderes EU-Projekt nach Griechenland oder Italien. Wäre das etwa besser?“
In Rhinow geht es schon längst nicht mehr um die Hoffnung auf blühende Landschaften. Nur noch ums Überleben, ohne ganz die Hoffnung zu verlieren.
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