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Die Sehnsucht des Schauspielers, sich zu befreien

Alexander Lange sitzt im Rollstuhl und ist Schauspieler bei Thikwa, einem Theater von geistig Behinderten. Derzeit ist er in einer Don-Giovanni-Adaption zu sehen. Und als Darsteller im Wedding-Film „Kroko“. Wovon andere träumen, das ist für ihn nur eine Notlösung. Viel lieber wäre er Busfahrer

„Ich habe gedacht, ich will jetzt ein bisschen springen. Aber plötzlich bin ich im Rollstuhl“

VON WALTRAUD SCHWAB

Was gäbe Alexander Lange nicht dafür, Busfahrer zu sein. Am Steuer eines Doppeldeckers möchte er sitzen, die Leute durch die Stadt kutschieren, ihnen dienen sogar, wenn auch nach strengen Regeln. So wäre er ein Herrscher über die Straßen – groß, mächtig, unerreicht. Aber nichts da. Der 34-Jährige ist stattdessen Schauspieler geworden. „Ich bin berühmt“, sagt er. Er sagt es, wie jemand, der an der Möglichkeit verzweifelt. Im soeben angelaufenen Film „Kroko“, der die Trostlosigkeit zeigt, mit der sich Halbwüchsige in Wedding oder Marzahn herumschlagen, spielt er mit. Außerdem tritt er in „Sehnsucht 420“, einer Adaption von Mozarts Don Giovanni, als Kriminalkommissar auf.

„Ich wollte nicht zum Theater, sondern BVG-Busfahrer sein. Schon als Kind. Jetzt immer noch. Jetzt kann ich nicht. Jetzt sitze ich im Rollstuhl. Muss alleine fahren“, sagt Alexander Lange. Mit diesen paar Worten fasst er seine ganze Lebensgeschichte zusammen. Alles andere ist Wiederholung. Unterbrochen nur vom Warten und Träumen.

Alexander Lange gehört zum Berliner Theater Thikwa. Es ist das einzige Theater von Menschen mit geistiger Behinderung, bei dem die Schauspieler angestellt sind. Seit 14 Jahren besteht es, Lange ist von Anfang an dabei. Die Gründerinnen wissen um seinen Traum, endlich aus den Fesseln befreit zu werden. Auf der Bühne durfte er fliegen. Und tanzen. Und sich aus dem Rollstuhl gleiten lassen. In Slow Motion. Da schwingt sogar die Idee vom Jesus mit, der den Lahmen befiehlt, wieder zu gehen. Auf der Bühne ist alles möglich.

„Ich weiß gar nicht mehr, wer die Idee hatte, dass ich Theater machen soll“, seufzt Lange. Er sitzt am Gemeinschaftstisch in der Thikwa-Etage in der Kreuzberger Oranienstraße. Ein ständiges Kommen und Gehen ist hier. Bei Thikwa wird alles selber gemacht: Stücke werden entwickelt, Kostüme geschneidert, Requisiten gebaut, das Bühnenbild entworfen, die Texte und die Musik erarbeitet. Außerdem werden die Ensemblemitglieder im Sprechen und in der Motorik geschult. Vom Ansatz her ist das Theater mit einer klassischen Behindertenwerkstatt vergleichbar. Einziger Unterschied: Hier werden keine Gebrauchsgegenstände hergestellt. Auf der anderen Seite der Mühen steht Unterhaltung. Eine, die aus der Sehnsucht geboren ist, einmal nicht der Verlierer zu sein.

Dennoch, selbst auf der Bühne muss um jeden Triumph gerungen werden. Alexander Lange, der Kriminalkommissar, hat sich in den Proben nur schwer mit dem Gedanken anfreunden können, dass er am Ende von Don Giovanni erschossen wird. Tagelang wurde dagegen gekämpft, dass Giovanni, „diese Niete“, „diese Null“, ihn besiegen soll. Es dauerte, bis alle damit einverstanden waren, dass Giovanni sie im Verlauf des Stückes erschießt. Sie dürfen jedoch wieder auferstehen und miterleben, wie er vor Schreck über ihre Erscheinung selbst zugrunde geht. So siegt doch die Gerechtigkeit. „Hätten wir ihre Auferstehung nicht zugelassen, die Schauspieler hätten rebelliert“, meint Christine Vogt, eine der Thikwa-Gründerinnen.

Den Applaus nach einer Aufführung liebt Alexander Lange. „Es ist toll, aber wenn mich jemand anguckt, dann bin ich verlegen“, erzählt er. „Bitte hör auf, mich zu loben“, sagt er. Als hätte er es nicht verdient. Das Lob gebührt seinem fantastischen Alter Ego. „Ich bin ein eineiiger Zwilling“, sagt Lange. „Wir wurden getrennt“, sagt er. Es ist seine traurigste Geschichte. „Ihn hat man zuerst rausgeholt, dann mich, aber ich habe keinen Sauerstoff bekommen.“ Seine Geburt kann Lange genau beschreiben. „Zu meiner Mutti haben sie gesagt: ‚Drück mal, drück mal, drück mal.‘ Und Mutti wird ganz grün im Gesicht. Mich haben sie zu spät aus dem Bauch genommen. Dann habe ich gemerkt, dass ich kein Gefühl in den Beinen habe. Ich habe gedacht: ‚Die können sich freuen, und ich will jetzt ein bisschen springen.‘ Aber plötzlich bin ich im Rollstuhl.“ Sein unversehrter Zwillingsbruder ist weggeflogen, wie ein Vogel. Nur ein Schatten von ihm blieb in Lange zurück.

„Ich wusste beim Theater überhaupt nicht, was jetzt kommt. Soll ich spielen, oder was soll ich machen?“, erzählt Lange. Soll er ich sein oder er? Die Haut zwischen der gelebten Rolle und der gespielten ist dünn bei den geistig behinderten Künstlern. Manchmal aber reicht sie, um Türen zu öffnen, die verschlossen waren. Dann geschehen Wunder. Seit kurzem redet einer der Schauspieler, der bisher stumm war. Aber nur, wenn er eine Frau spielt. Alexander Lange wiederum erzählt, dass er auf der Bühne noch nie einen Spasmus oder einen epileptischen Anfall hatte. Das fremde Ich, das ein Abbild des eigenen Ich ist, lässt sich aus der bescheidenen Distanz trotz allem besser kontrollieren. „Wenn ich einen Anfall habe, dann werden meine Augen groß, und es muss sofort jemand kommen. Dann kommt die Spucke aus mir. Ich mag keine Anfälle. Ich wäre lieber nur im Rollstuhl ohne Anfälle.“

„Ich wollte nicht zum Theater, sondern BVG-Busfahrer sein. Schon als Kind“

Bei den Dreharbeiten zu „Kroko“ hatte Lange ständig Spasmen. „Die kommen wie der Blitz“, erzählt er. Er bestand jedoch darauf, dass weitergemacht wird, als sein Betreuer schon unterbrechen wollte. Kroko ist eine Weddinger Göre, die sich durch Klauen und Betrügen den letzten Kick gibt. Als sie es zu weit treibt, wird sie zu 60 Stunden Arbeit in einer Wohngemeinschaft für geistig Behinderte verurteilt. Lange spielt einen von ihnen. „Sylke Enders kam, die Regisseurin, und sagte: ‚Mach doch bei Kroko mit.‘ ‚Warum nicht, ich war doch noch nicht im Fernsehen‘, hab ich gedacht“, erzählt Lange.

Bei den Aufnahmen hat ihm allerdings nicht gefallen, dass er in so kurzen Sätzen sprechen soll. „Ich mag nicht, wenn man mir sagt, was ich tun soll.“ Auch seine Lehrerin in der Schule habe ihm zu oft gesagt, was er machen soll. Deshalb kann er nun nicht lesen und schreiben. Aber als er bei den Filmaufnahmen den Berg hinunterrollen musste, das hat ihm gefallen. „Ich habe gebrüllt wie ein Tier, und dann hat Franzi, die Kroko, geschrien: ‚Alex, lebst du noch?‘, und dann habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr im Film war, und dann habe ich gemerkt, dass diese Frau mir gefällt.“

Irgendwann ist der Film abgedreht, das Stück inszeniert, der Applaus verebbt. Die gespielten Ichs verschwinden. Kein Kriminalinspektor, kein Tänzer, kein Schwebender ist er mehr. Auch sein Zwillingsbruder bleibt verschwunden. Da ist nur Alexander Lange – zurückgeworfen auf seine Wut, seine Sehnsucht. „Ich mag nicht mehr Rollstuhlfahrer sein, ich möchte laufen“, sagt er leise, „manchmal fahre ich im elektrischen Rollstuhl bis zur Haltestelle und gucke den Bussen nach, weil ich nicht Busfahrer sein kann.“

„Sehnsucht 420“. Samstag und Sonntag um 20 Uhr, Tanzfabrik, Möckernstraße 68

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