: Zu spät abgepfiffen
Der Abstieg des FC St. Pauli hat eine Ursache: Die letzten zehn Spielminuten. Hätte der Trainer damals nur besser hingehört
von PETER AHRENS
Als Sepp Herberger seinen berühmten Satz sprach, war der Abstieg des FC St. Pauli eigentlich besiegelt. Dass jedes Spiel 90 Minuten dauert, hatte der Reichstrainer dereinst nämlich so in sich hineingenuschelt, dass der kleine Franz Gerber, der damals vor dem Radio hing, den Satz akustisch einfach nicht richtig verstanden hatte. „Woas hoat er gsagt? Wie loang dauerts Spuil?“, fragte der kleine Franzl in die Runde, doch sein Papa war gerade zu sehr damit beschäftigt, den neuen Nierentisch, den sich Familie Gerber gekauft hatte, aufzubauen. „80“, murmelte Vater Gerber, aber er meinte damit nur die Abmessungen in Zentimetern im heimischen Wohnzimmer. Und mit diesem bedauerlichen Missverständnis im Gepäck ging der Coach und Manager des FC St. Pauli diese verflixte Saison an. Das Resultat: Der Abstieg der St. Paulianer vollzog sich in den letzten zehn Spielminuten. Blöder Nierentisch.
Das fing schon am ersten Spieltag an, weil Manager Gerber dem damaligen Übungsleiter Demuth signalisiert hatte, dass ein 0:1 in Frankfurt zum Saisonauftakt doch ein ganz ehrenvolles Resultat sei. Also wurde nur noch der Abpfiff abgewartet und der Spielbetrieb eingestellt. Die Eintrachtler hatten demnach kein großes Problem, in der 84., 88. und 89. Minute noch mal fix drei Tore nachzulegen.
Dasselbe Spiel gegen Aalen (89. Minute) an Spieltag zwei. Am folgenden Spieltag gabs in Lübeck eine Bude in der 82. Minute, was bei einem 0:5-Rückstand allerdings schon ein bisschen egal war. Der Coach damals hieß Philipkowski. Ältere Fans erinnern sich möglicherweise noch an ihn. Bei Union Berlin Gegentor in der 85. Minute, in Reutlingen war es die 84., Rückspiel in Aalen die 88. Minute. Wieder mal Union Berlin: diesmal gleich zwei (87./90.). Oberhausen tat es gleich (80./84.). Dann war wieder Reutlingen an der Reihe mit der 90. Minute. Und das Drama mit Burghausen (90.) ist noch allen frisch im Gedächtnis.
Dagegen stehen sechs eigene Treffer in den zehn Schlussminuten wie der Ausgleich daheim gegen Frankfurt in der 90. oder der Siegtreffer gegen Waldhof. Rechnet man hin und her, hätte der FC St. Pauli bei der 80-Minuten-Tabelle insgesamt fünf Punkte mehr auf dem Konto. Das wäre locker Rang 14, und die Klasse wäre gesichert. So viel zur Arithmetik.
St. Pauli-Präsident Corny Littmann will denn auch „beim DFB einen Antrag auf Abschaffung der 90. Minute stellen“, was bei Gerber durchaus Irritationen auslöste: „Wieso? Doa san meine Jungs doch scho seit zehn Minuten wiader in der Koabine.“
Da die taz aber keine Zeitung ist, die ihre LeserInnen im Zustand allgemeiner Desperatheit zurücklässt, sondern stets auf der Suche nach dem Guten im Fußballprofi und im Menschen befindlich ist, noch ein kleines Rechenexempel für die bleibenden zwei Spieltage. Wenn schon Gerber – „Dös woar der Abstieg“ – nicht mehr dran glaubt, müssen es halt andere tun.
Also: 33. Spieltag am kommenden Sonntag. Union Berlin schlägt Eintracht Braunschweig 2:1. Der SV Waldhof verabschiedet sich von seinen Zweitligafans mit einem 1:0 über Aalen, während Reutlingen daheim über ein 0:0 gegen Aachen nicht hinauskommt. St. Pauli siegt in der 90. Minute 3:2 über Duisburg.
34. Spieltag, eine Woche später: Aalen wird gegen Oberhausen disqualifiziert, weil Trainer Werner Lorant sich am Hals des gegnerischen Trainers festgebissen hat. Die Punkte werden anschließend den Oberhausenern zuerkannt. Braunschweig verliert gegen den frisch gebackenen Bundesligaaufsteiger aus Mainz mit 0:11 wie irgendwann in den frühen 80ern gegen Borussia Mönchengladbach. Reutlingen schafft in Frankfurt zwar einen sensationellen 2:1-Sieg, das reicht aber nicht, weil der DFB noch mal nachrechnet und feststellt, dass den Reutlingern wegen ihrer fiesen Finanztricks nicht sechs, sondern neun Punkte abzuziehen sind.
St. Pauli siegt 5:0 in Aachen, wie dereinst der 1. FC Köln am Millerntor am letzten Spieltag 1978: Der Kopfballtorpedo von Stanislawski wird Tor des Jahres.
Endlos-Party auf dem Kiez. Auf dem Spielbudenplatz werden zwei Riesen-Gummi-Corny-Littmanns aufgestellt.
foto: Henning Scholz
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