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Valiumschön hier, wirklich

Die wärmende Sonne ist zurück, die wirtschaftliche Depression aber geblieben. Wie lebt es sich denn zurzeit im seismografischen Zentrum der Republik, in Berlin-Mitte? Unser Autor hat Spaß gesucht – den von früher und den von heute

von HENNING KOBER

Es ist zwölf Uhr nachmittags und der Tag beginnt. Die dunklen Holztische und Stühle vor der Kaffeebar Caras in der Neuen Schönhauser sind gut besetzt, obwohl die Sonne noch hinter den Häusern steht.

Im Inneren stehen zwei Mädchen ganz in Schwarz hinter der Theke, brühen Kaffeegetränke und verkaufen Muffins. Sie schauen auf Andreas Türk, ehemaliger Moderator einer täglichen Talkshow, der bekleidet mit einer verwaschenen Bundeswehrjacke und silbernen Nikes an den Füßen vor ihnen steht und Cappuccino bestellt.

Ihr Blick verweilt nur kurz auf der Prominenz, der Griff zu Türks offeriertem Zehneuroschein ist sicher und ohne Zittern. Überall Gesichter, die man kennt, irgendwoher. Am Fenster das Mädchen mit den Zöpfen aus dem 103, draußen der Verkäufer aus dem Adidasstore, der Türsteher vom Sage-Club daneben.

Auf der Straße sitzen in Reih und Glied der angeordneten Bestuhlung, kleiner Tisch, dazu zwei Stühle, Menschen zwischen zwanzig und vierzig, die gut aussehen und nicht reden. Dafür rauchen, Kaffee trinken und Zeitung lesen.

Solang keine Tram quietschend um die Ecke rumpelt, ist es leise. Spatzen hüpfen über den ausgetretenen Gehsteig und kämpfen um Muffinkrümmel. Valiumschön hier, keine lauten Kinder, keine Bettler, kein Streit. Wir machen das, was alle tun, schlagen die Zeitung auf und beobachten aus dem Augenwinkel die anderen. Ein Glück, dass die Sonnenbrillen dieses Jahr so große Gläser haben.

Ein junger Mann balanciert ein Tablett mit verschiedenen Kaffeeprodukten und Backwaren an den Tisch neben seine Freundin. Beim Absetzen passiert ihm ein Fehler. Die Gläser fallen um, ein großer brauner See ergießt sich auf den Boden, läuft in dünnen Fäden über seine khakifarbene Hose und die Nikes an seinen Füßen. Bei ihm in Gold.

Andreas Türk dreht das Gesicht zur Seite und lacht. Das Mädchen in dem grünen Adidaskleid hält sich die Hand vor den Mund. Blicke werden getauscht, schmunzeln, ein Hauch von Kommunikation. Der junge Mann läuft nach drinnen. Die Freundin putzt mit einer Serviette. Es wird wieder still.

Auf der Rosenthaler Straße treffen wir Rico, der uns einlädt, mit in seine neue Wohnung zu kommen. Auf dem Arm trägt der 22-Jährige seine zehn Monate alte Tochter Giulia. Der Junge mit den kurzen blonden Haarstoppeln ist neulich vom Stadtrand nach Mitte gezogen.

Auf dem Weg redet er ununterbrochen, berlinernd, aufgeregt. Es geht um die gerichtliche Auseinandersetzung mit Giulias Mutter, die mit einem neuen Freund zusammenlebt und jetzt mit Hilfe eines ehrgeizigen Anwalts versucht, das Sorgerecht für die Tochter zurückzuerlangen. „Da hat die aber keene Chance, ick kann der Kleenen doch viel mehr bieten“, sagt er trotzig und küsst seinen Schatz auf die Wange.

Giulia schlägt die Augen auf und blinzelt ins helle Sonnenlicht. Rico bewohnt eine großzügige Dreizimmerwohnung, gelegen in einem der oberen Stockwerke des höchsten Hauses der Gegend, ein schlichter DDR-Bau, südlich des Hackeschen Marktes. Durch das Fenster schauen wir auf Berlin-Mitte. „Cool wat“, fragt Rico. „Manchmal denke ick, det allet jehört mir“, seine Hände ausgebreitet vor der Modelleisenbahnwelt unter uns.

Aus dem Bahnhof Alexanderplatz schiebt sich ein ICE gen Westen. Autos und Häuser sehen wie Spielzeug aus, die Menschen sind Punkte. Zentrum der Republik und Lummerland, die Insel mit den zwei Bergen, zugleich. Nach der Wende der viel beschriebene Abenteuerspielplatz, wo die Mieten niedrig, die Menschen verrückt und das Leben wild war. Vergangenheit, angeblich.

Heute ist immer alles schlechter, wir leben ja auch in Zeiten der Depression, Pech für uns. Vielleicht. „Von schlechter Stimmung merk ick nix“, sagt Rico. Für ihn ist 2003 prima. Dazu muss man wissen, dass Rico voriges Jahr sechs Monate in einer Justizvollzugsanstalt verbracht hat – für einen Freund, der, so erklärt Rico, einer der Größten im Berliner Kokaingeschäft ist. Seine Dankbarkeit bezahlt er Rico nun in Handelsware zurück, wovon Rico offensichtlich mehr als gut leben kann. An der Wand eine Harman-&-Kardon-Anlage. Auf der neu riechenden Lederchaiselongue liegen aufgeschlagene BMW-Prospekte.

So ganz sicher ist man sich jedoch nicht, was Ricos Geschäftserfolg angeht, vielleicht redet der Junge mit der schnellen Stimme etwas zu viel. Zum Beispiel über seinen besten Kunden, einen SPD-Abgeordneten. Als Rico fragt, ob wir ihm helfen können beim Transport seiner Tagesration, die er im Toilettenkasten eines Coffee Houses am Hackeschen Markt deponiert, verabschieden wir uns.

Die Kugel des Fernsehturms am Alexanderplatz leuchtet in warmem Gold, unten zwischen den Häusern ringt der Schatten mit dem Licht. Wir fahren mit dem Taxi ins Café Einstein Unter den Linden. Die rote Fahne mit dem gelben Stern weht nicht mehr vor Joschka Fischers Lieblingscafé. Der Krieg ist vorbei, das Friedenscamp der PDS auf dem Mittelstreifen wieder abgebaut.

Im L-förmigen Innenraum des Cafés ist das Licht gedämpft, und es gibt genug freie Tische. Büroschluss ist erst in etwa einer Stunde. Vor der Theke steht ein dutzend Kellner. Wir setzen uns an einen kleinen Tisch an der Seite mit Blick auf die abgesperrte Neustädtischen Kirchstraße, in der die amerikanischen Botschaft liegt.

Dem politischen Berlin und ihren Beobachtern ist das Einstein das Café wie ihnen das Borchardts das Restaurant ist. Entsprechend klassisch die Kleidung, Boss, Strellson, Armani und Strenesse dominieren ihre Körper. Von den bekannten Gesichtern ist heute nur Roger Willemsen da, der ganz vorne am Eingang gestenreich auf einen Begleiter einredet und sich immer wieder lachend zurück in den Stuhl wirft.

Der Kellner reicht Milchkaffee, die Schaumkrone mikroskopisch fein, dazu ein winziges Glas Wasser. Am Nebentisch platzieren sich Damen unterschiedlichsten Alters, jedoch alle mit derselben Frisur. Halblang, vorne fransig, in den Farben Weiß, Rotbraun, Blond. Mutter mit erwachsenen Töchtern, der Sprache nach aus dem Rheinland. Zu ihren Füßen stehen Tüten von Dussmann und aus dem Flagshipstore von Lacoste drei Häuser weiter.

Zwei Polizisten wickeln einen Döner aus der Alufolie. Ein Einsteinkellner läuft mit einem abgedeckten Tablett in Richtung Botschaft. Der dunkelhäutige Amerikaner in blauer Securityuniform kontrolliert sein Handy.

„So wie sich die Amerikaner benehmen, ist es kein Wunder, dass man ihre Botschaft bewachen muss“, erklärt die Mutter ihren Töchtern, „schaut mal, ich hab’ hier schon wieder so eine rote Stelle am Ellbogen. Das ist immer nach dem Solarium.“

Ein dumpfer Schlag, splitterndes Glas unterbricht die Konversation. Im hinteren Teil, wo eine Gruppe englisch sprechender Geschäftsmänner ein spätes Mittagsmahl einnimmt, ist eine Flasche auf den Boden gefallen. „No terror-attack“, beruhigt ein sichtlich angetrunkener Amerikaner mit dunklem Vollbart lachend. Die Mutter am Nebentisch runzelt ihre Stirn, bestellt die Rechnung und bezahlt mit einer goldenen Visacard.

Es ist Samstagnacht in Berlin-Mitte, und wir fahren über den Rosenthaler Platz hinunter zum Hackeschen Markt. Links in der Dunkelheit liegt das letzte besetzte Haus von Mitte, rechts an der Ecke zur Gipsstraße leuchtet die SAP-Baustelle im Dunkeln. Dort wird noch gearbeitet, der Softwarekonzern aus dem hessischen Walldorf scheint es eilig zu haben, das dritte Stockwerk der neuen hauptstädtischen Residenz ist schon fast fertig.

Im Cibo Matto sind fast alle der weiß gedeckten Tische besetzt. Die Gäste, eine Runde ähnlich wie in Helmut Dietls Film „Rossini“, haben diesen Berliner Bezirk zum Leben und Arbeiten gewählt. Männer und Frauen, die in Agenturen, Redaktionen, Büros arbeiten und mehr Geld verdienen, als sie ausgeben können.

Oder die, die seit kurzem arbeitslos sind und trotzdem noch kommen, obwohl das Geld schon knapp wird. Sie sitzen an den vorderen Tischen oder an der Bar. Wir trinken Bier aus Gläsern, in die „Krombacher“ eingraviert ist, und betrachten die Menschen: zwei ältere Männer mit einer sehr hübschen, etwas zu jungen Begleitung, eine wartende Dame mit dunkler Brille, die in der Vogue blättert, ein junger Mann, der sich mit seiner Freundin eine mit Lachs belegte Pizza teilt.

Wir langweilen uns auf hohem Niveau und warten, bis es spät genug ist zum Ausgehen. Die Nacht spielt woanders. Ein Mädchen, von dem wir glauben, dass es Carolin heißt, kommt an unseren Tisch und möchte wissen, wo wir später hingehen. Sie klagt, was man laufend hört und wahr ist, aber durch stete Wiederholung nicht besser wird: „Seit das Ostgut weg ist, macht Ausgehen einfach nicht mehr so viel Spaß.“

Am Jahresanfang hatte der Technoclub am alten Güterbahnhof geschlossen. Ein Ort, an dem alles, was die Nacht groß macht, zusammenkam: Musik, Drogen, Sex und ein auf einzigartige Weise gemischtes Publikum verschiedenster sexueller Orientierungen. Auf dem Areal will jetzt ein amerikanischer Investor eine riesige Sport- und Konzerthalle bauen.

Dort hatten wir Carolin, die sich als Meike entpuppt, zuletzt gesehen, mit wirrem Blick, riesigen Pupillen, hektisch bewegend, Glück im Gesicht. Sie will später anrufen. Berlin-Mitte ist nicht London, die Eintrittspreise in den Clubs sind im Vergleich immer noch niedrig, der Suche nach der besten Party steht nichts im Wege. Auch wenn die Stimmung etwas anderes suggerieren mag, nirgendwo in Deutschland gibt es so viele gute Clubs wie in Berlin-Mitte.

Im Tresor, Sage-Club, im Cookies, WMF, in namenlosen Bunkern, Hallen und Pavillons treffen sich die Gesichter der Nacht. Daniel, Christian und Ulla fahren ins WMF, das momentan im Café Moskau residiert, einem ehemaligen feinen DDR-Restaurant an der Karl-Marx-Allee.

In den späten Neunzigern, zu den besten Zeiten der New Economy, stand das WMF wie kein anderer Club für die Vereinbarkeit von einträglicher Arbeit im Dienste der Karriere und wildem, zügellosem Leben. Naomi Campbell, U2-Sänger Bono und George Clooney wurden von den Gesellschaftsreportern gesichtet.

Heute ist der Spaß zurückgekehrt. Hinter der Türe leuchtet es rot, bunte Gestalten, bekleidet in einer Mischung aus Designerstücken und Secondhandtextilien, drängen sich im plüschig roten Untergeschoss. Christian besorgt starken Wodka mit Zitrone, DJane Ellen Allien schleudert die richtigen Töne in die Menge. Auf der Toilette lässt sich Daniel von einem Jungen, der eine Comme-des-Garçons-Mütze mit einem riesigen Schild trägt, zwei Briefchen Speed schenken.

Es wird heiß, die Bilder tanzen schneller, das gute Gefühl, vielleicht Glück, verzaubert Gesichter. Am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne.

HENNING KOBER, 21, lebt als freier Autor und Journalist mit seinen Freunden in Berlin

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