piwik no script img

Nah am Wasser gebaut

Des Kanzlers Augenschimmer und die Tränen seiner Frau auf dem SPD-Parteitag: War alles echt – oder nur Teil einer gefühligen Inszenierung? Notizen zu einem gut möglichen Akt innerer Kapitulation

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Die Schauspielerin Maria („Seelchen“) Schell war dafür bekannt, dass sie jederzeit echte Tränen absondern konnte: echte, das meinte in ihrem Fall keine Glyzerintropfen, die beim damaligen Stand der Filmtechnik, mühsam genug, das originale Körpernass ersetzen mussten.

Die Frage, ob diese Tränen echt im emotionalen Sinn, als Äußerung eines inneren Vorgangs seien, steht auf einem anderen Blatt. Schauspielkunst besteht in einem Als-ob: Der glänzende Schauspieler, die große Tragödin sind in der Lage, eine Emotion so lebensecht zu kopieren, das heißt situativ nachzuempfinden, dass ihr Körper sich verhält, als habe tatsächlich eine starke seelische Erschütterung stattgefunden. Ihre Kunst besteht darin, den eigenen Körper zu überlisten – und damit den Vorgang umzukehren, der normalerweise zu Tränen führt.

Wann weinen wir? Wenn wir mit einer Situation konfrontiert sind, die unsere Affektkontrolle übersteigt. Wenn wir mit einer Gewalt konfrontiert sind, die stärker ist als unsere Selbstbeherrschung, meldet sich unbezähmbar ein Stück Natur in uns wieder zu Wort: Der Körper tritt aus seiner Fesselung durch das Ich und die gesellschaftlichen Normen. Wir werden, so heißt es traditionell, „übermannt“.

Im Weinen steckt immer ein Zweikampf zwischen Natur und Kultur, zwischen der Fassung, die wir uns selber gerne geben, weil wir damit die Dominanz beweisen, die wir über die eigene innere Natur gewonnen haben, und einer natürlichen Erbschaft, die urplötzlich obsiegt. Wir verlieren in einem solchen Moment das, worauf wir am stolzesten sind: unsere Autonomie.

Im Weinen erleben wir, wie der Anthropologe Helmuth Plessner sagt, „das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwanghaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist“.

Kurz: Wir erleben dann ein Gefühl von Ohnmacht. Man weint nur in Situationen, so Plessner, „auf die es keine andere Antwort gibt“. Dieser „Akt der inneren Kapitulation“ ist für das Individuum also kaum erstrebenswert.

Als Zeichen nach außen hat es freilich eine andere Seite: Eben das zwangsweise Entgleiten in Sprach- und Fassungslosigkeit gilt als Kennzeichen der Echtheit, der heute gerade in der Politik so gewünschten Authentizität. Da, wo Worte nicht hinreichen, kommen eben Tränen. Sie zeigen ein unmittelbares Ergriffensein von der Sache: Kein Wort passt zwischen sie und den Weinenden, das Körpersekret ist die einzig verbliebene Antwort.

Im Weinen, so sagt die Alltagssprache, werden wir weich. Deshalb sind Tränen in der Politik etwas Zwiespältiges. Der weit blickende Macher, von dem wir erwarten, dass er notfalls mit aller Härte durchgreift, muss die Situationen, in denen er öffentlich vom Affekt übermannt wird, gut kalkulieren. Gewiss, Weichheit indiziert Ehrlichkeit – aber ist nicht der Ehrliche der Dumme?

Deshalb ist die Delegation solcher Übermannung an die so genannte bessere Hälfte ein kaum zu überschätzendes Benefizium für politische Führungspersönlichkeiten mit vorzeigbaren Gattinnen – nicht nur im amerikanischen Wahlkampf.

Mittlerweile sind viele der öffentlichen Politikinszenierungen darauf angelegt, Situationen zu gestalten, die automatisch „auf die Tränendrüse drücken“. Mit dem Sieg von Reality-TV über die Realität haben sich die Grenzen zwischen echt und inszeniert ebenso verändert wie die Schamgrenzen, die uns heute ungerührt auf Kopulierende in Containern glotzen lassen.

Die Kultur hat der Natur mittels der allumfassenden Medialisierung längst ein Schnippchen geschlagen: Die Inszenierungen der TV-Realisten sorgen schon dafür, dass die überwältigenden Momente à point einsetzen – spätestens beim Kamerarotlicht.

Doku-Soap ist allenthalben das Gebot der Stunde. Es geht längst nicht mehr um echte oder Krokodilstränen, es geht um Inszenierungen, die den Automatismus des Körpers in Gang setzen – es läuft dann schon von selbst.

Müßig deshalb die Spekulation, ob einst Helmut Kohl wirklich geweint hat oder nun, am Sonntag, sein Erbe und ob die Tränen seiner Frau echt waren: Wir leben im Zeitalter der naturidentischen Aromastoffe. Hauptsache, wir sitzen in der ersten Reihe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen