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tschechows sexthriller von JÜRGEN ROTH

Die Leipziger Buchmesse hat begonnen, und noch immer räkelt sich die Verlagsbranche selbstgefällig im gleisnerischen und glibberigen Licht der Buchstars Naddel al F., Verona F. und Daniel K. Das Räkeln wird der „Bücherwelt“ (M. Krüger) aber in Kürze gründlich vergehen.

Unter Slawisten wurde schon länger gemunkelt, dass mit einem der herausragenden Dichter Russlands irgendetwas nicht stimme und die Forschung ihr Bild von ihm radikal revidieren müsse, sofern an den Gerüchten etwas dran sei. Nun scheint aus der Mutmaßung nackte Wahrheit zu werden. Worum und um wen geht es?

„Ein trüber Wintermorgen. Auf der glatten und glänzenden Oberfläche des Flüsschens Bystrjanka, die da und dort mit Schnee bestreut ist, stehen zwei Bauern: der kurz geratene Serezka und der Kirchdiener Matvej.“ So kennen wir ihn, so kennen wir seine Sätze – die Sätze eines Menschenfreundes ohnegleichen, Sätze eines Mannes, den Kafka „sehr“ liebte, den Andrzej Szczypiorski als den „größten Geist der ganzen Weltliteratur“ bezeichnet, dessen entschlacktes, prägnantes Russisch und dessen ungetrübte Herzenswärme ihm die postume Ehre einbrachten, von Sean O’Casey zum „Freund“ ernannt zu werden.

Anlässlich des 100. Todestages am 24. Juni 2004 erscheint ab Frühjahr in einem der letzten vernünftigen Verlage, bei Diogenes, eine neue Werkausgabe von Anton Tschechow, der in der bahnbrechenden Übersetzung von Peter Urban bereits seit geraumer Zeit unter „Čechov“ firmiert. Die fünfzehn Bände enthalten Stücke, publizistische Arbeiten und Prosa, darunter die oben zitierte frühe Erzählung „Kunst“. Was sie nicht enthalten: den reifen Tschechow, der wie der junge Tschechow offenbar ein obsessives Verhältnis zur Erotik, zu knallhartem Sex und zur Softpornografie unterhielt.

In einem winzigen Weinkeller nahe Wien wurden vor drei Monaten mehrere in Wachsleinen gehüllte Konvolute gefunden, die sich nach einer intensiven tomographischen und chemischen Analyse als unbekannte Tschechow-Texte erwiesen. Die Wissenschaft hatte es geahnt, jetzt ist es augenfällig Tatsache: Der große Milde aus dem kalten Osten war auch ein knüppelscharfer Thrillautor und graphomanischer Schweinigel.

Das muss Peter Urban bestätigen, der die Handschriften wochenlang prüfte. „Ich war schockiert“, sagt er bedrückt. „Aber die Sachen sind echt. Es gibt keinen Zweifel.“ Urban kübelt hastig einen Willibecher Wodka herunter. „Ich möchte diese Dinge eher High-off-Stories und Bondage-Brüller nennen.“ Unter ihnen, gesteht er, seien teilweise ausschweifende Elaborate. Er deutet zitternd einige Titel an: „ ,Wer zwei Hasen nachjagt …‘, ‚Für die Äpfelchen‘, ‚Er und sie‘, ‚Die gute Bekannte‘, ‚Die Tochter des Kommerzienrats‘, ‚Marja Ivanova‘, ‚Szenen aus dem Landleben‘ – es nimmt kein Ende.“

In einer ersten Reaktion bekundete Diogenes-Chef Daniel Keel, er gedenke, jede Form der Veröffentlichung zu verhindern. Hoffentlich setzt Keel sich nicht durch, damit wir bald eines „ganz anderen“ (Horkheimer) Tschechow/Čechov gewahr werden. Schnallen wir uns also alle fest an, all die Schnackselschnallen und Schnullidullis eiskalt eingeschlossen.

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