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Schulz’ Leidenschaft

Die Johannes a Lasco Bibliothek ist ein einzigartiges Forschungszentrum, ein Abglanz von dem, was Emden einmal war, und ein Ersatz für das zerstörte Herz der Stadt. Heute wird sie geschlossen – auf unbestimmte Zeit. Und dass verletzte Eitelkeiten dabei im Spiel waren, ist zu dementieren

Ein Pole in Friesland: Johannes a Lasco

Selten werden Einrichtungen Ostfrieslands nach polnischen Adligen benannt, noch seltener Institutionen der reformierten Kirche nach Menschen. Jan Łaski der Jüngere, latinisiert Johannes a Lasco, 1499 in Łask geborener Baron, ist eine Ausnahmefigur. Als Neffe des Primas von Polen und katholischer Priester reiste er durch ganz Kontinentaleuropa und kontaktierte die bedeutendsten Denker der Zeit. Nicht zuletzt seine Skandalheirat mit einer Leuwener Bürgerlichen im Jahr 1537 brachte ihn ins Visier der Inquisition. Das junge Paar zieht nach Emden, wo a Lasco 1542 das Amt des Superintendenten Ostfrieslands annimmt. Dem Kirchenwesen der Region und der Stadt, die laut Zeitgenossen damals „so viele Ketzereien, Sekten und Schismen zählt, wie Köpfe“ verleiht er binnen sieben Jahren Strukturen, die im Kern bis heute bestehen. Auf Druck der Habsburger muss er Emden 1549 verlassen. In England wirkt er als Superintendent der Reformierten Londons. Als im Herbst 1553 die fanatische Katholikin Maria I. Königin wird, flieht er mit 175 Gemeindegliedern per Schiff. Das lutherische Dänemark verwehrt ihnen die Landung, ebenso andere Ostsee-Städte. Nur Emden nicht. Die Aufnahme der Flüchtlinge markiert den Beginn eines breiten Zuwanderer-Stroms aus Flandern: Emdens Große Kirche gilt seither in den Niederlanden als Moederkerk. Nach theologischen Streitigkeiten zieht a Lasco nach Polen, wo er 1560 stirbt. BES

aus emden BENNO SCHIRRMEISTER

Es besteht der Verdacht, dass Walter Schulz’ Leidenschaft auch zerstörerische Wirkungen entfaltet hat. Behördlicherseits sind die Ermittlungen abgeschlossen, „wir warten noch auf die Stellungnahme des Verteidigers“, sagt Oberstaatsanwalt Werner Kramer. Der Vorwurf lautet Untreue. In Geld geht es um eine Million Euro, in Büchern um fürstliche Sammlungen aus den fünf neuen Ländern, die noch nicht in Emden gelandet sind. Kein Wunder: Schließlich dürfen laut Ausgleichsleistungsgesetz für Kulturgüter solche Bestände erst 2014 in den Westen überführt werden.

Kramer wird wohl trotzdem Anklage erheben, im Januar, dem ersten Monat des Jean Calvin-Jahres. Eine Großausstellung widmet das Deutsche Historische Museum dem Reformator zum 500. Geburtstag. Die Exponate stammen aus der Schweiz, den Niederlanden – und aus Emden. „Die Johannes a Lasco Bibliothek“, sagt Kuratorin Sabine Witt, „ist unser größter Leihgeber.“ Und schickt hinterher: „Die Kooperation besteht weiter, Punkt.“

Es klingt als schwinge da über den Wortsinn hinaus eine Botschaft mit. ‚Liebe Emder‘, könnte die beispielsweise lauten, ‚rechnet mal nicht mit Verständnis in Berlin, falls Ihr Probleme mit der Vertragserfüllung bekommt, bloß weil Ihr gerade Eure Bibliothek dichtmacht.‘ Das geschieht am Samstag. Die Mitarbeiter sind zum 31. Dezember entlassen. „Schließen, das ist das falsche Wort“, sagt Kirchenpräsident Jann Schmidt, „als kultureller Ort bleibt sie ja erhalten.“ Man werde, so das geistliche Oberhaupt der reformierten Kirche, „nur die Bibliothek schließen und den Forschungsbetrieb aufgeben“, weil man muss, „aus Geldmangel“. Doch, „es gibt bestimmt eine Wiedereröffnung“. Wie, ist noch unklar. Und wann ist ungewiss. Nur die Prämisse steht fest: Ohne Walter Schulz.

Die Johannes a Lasco Bibliothek, entstanden in den Ruinen der Großen Kirche Emden, „ist ein Zentrum, wie es kein zweites in Deutschland gibt“, sagt Stefan Ehrenpreis, Geschichts-Professor an der Ludwig Maximilians Uni in München. „So eine vollständige Sammlung zur Geschichte der reformierten Theologie gibt es sonst nirgends.“ Sie ist, das wissen alle, Schulz’ Lebenswerk. Sein Opus Magnum. Die Frucht seiner Leidenschaft.

Früher, in besseren Zeiten, da hat sich der Direktor und Alleinvorstand der kirchlichen a Lasco-Stiftung manchmal, abends, einen Spaziergang durch die Räume gegönnt. Er hat innegehalten, vielleicht, vor einem Gemälde an einem der Backsteinpfeiler. Ist durchs Sondermagazin geschlendert. Hat sich schließlich einen Stuhl genommen und, warum denn nicht, ein Glas Wein, sich gesetzt und die Schätze betrachtet: Die Inkunabeln und Folianten, die theologischen Traktate, die kolorierten Prachtdrucke – einfach nur angeschaut. Schulz konnte das. Er hatte ja den Schlüssel.

Damit ist es vorbei. Sicher, das Namensschildchen hängt noch an der grauen Tür unterm Dach: Hier hatte Schulz sein Büro. Aber es ist versperrt. Auch die Glastür, die zum Verwaltungstrakt öffnet, hat ein neues Schloss. Seit dem 1. September. Das war der Tag, an dem Schulz die fristlose Kündigung überreicht bekommen hatte. Er saß gerade mit den treuen Mitarbeitern bei Kaffee und Kuchen, zum Abschiednehmen, da fing der Schlüsseldienst an zu fräsen. So etwas klingt nie schön, erst recht nicht, wenn es durch ein Kirchenschiff hallt. Und wer auf einem der Balkone in ein Buch vertieft liest, schreckt auf.

„Das Vorgehen wirkt herzlos“, räumt auch Schmidt ein, aber nur „wenn man die Vorgeschichte nicht kennt“. Seit Mai habe es „intensive Gespräche“ gegeben. Grund: Der Niedergang des Stiftungskapitals. Im Jahr 2001 betrug das über acht, diesen Sommer nur noch 2,6 Millionen Euro. Untreue? „Das ist nicht unser Vorwurf“, Schmidt will da die Ermittlungen abwarten. Im August aber tagte das Kuratorium. „Schulz hat uns da eröffnet, dass die Stiftung im ungünstigsten Fall in vier Jahren am Ende sei“, so Schmidt. „Da mussten wir die Reißleine ziehen.“

Was wieder Reaktionen auslöste. Zum Beispiel haben Groß-Antiquare telefonisch nachgefragt, wann’s denn wohl losginge mit dem Ausverkauf. Oder aber die Dauerausstellung: In den Vitrinen fehlen schon Prunkhumpen, Abendmahlsschalen, Becher. Die Schildchen liegen noch da. „Silber im Gebrauch der reformierten Gemeinden Ostfrieslands“ heißt die Schau. Die Leihgeber haben ihre Prachtstücke zurückgefordert.

Vor allem aber hat Schulz’ Rauswurf Proteste verursacht. Von Konfessionalisierungs-Historikern aus Übersee. Vom deutschen Bibliotheksverband. Vom früheren Generaldirektor der Stiftung Niedersachsen. „Ich lasse mich doch nicht zum Hampelmann machen“, hat Oberbürgermeister Alwin Brinkmann der Emder Zeitung gesagt und sein Kuratoriums-Mandat niedergelegt. „Der öffentliche Druck hat die Ermittlungen erschwert“, sagt Oberstaatsanwalt Kramer. „Vor allem der aus Emden.“

Emden ist untergegangen. Die Stadtgeschichte war am 6. September 1944 beendet. Damals, kurz nach den ersten V2-Angriffen auf England, wurde sie ausradiert. Die Große Kirche bekam zwei Treffer: Eine Sprengbombe vernichtete das Westschiff. Vom Ostflügel blieben Grundmauern stehen. Erst 48 Jahre später hat man begonnen, in die kahlen Backstein-Spitzbögen einen Neubau zu errichten. Der Architekt hieß Joachim Bunse und ist seit 13 Jahren tot. Der Initiator war Walter Schulz, der noch in der Krummhörn lebt. Und Hausverbot hat.

Der Weg führt über den Friedhof, durchs restaurierte Kirchenschiff, rechts an der Wand informiert eine Tafel, dass die Institution im Jahr 2001 den Titel „Bibliothek des Jahres“ erhalten hat, und im komplett verglasten Treppenhaus gibt’s einen Lift, zum Glück, schließlich sitzt Wilhelm Neef ganz oben. Gespräche führt Neef im großen Versammlungsraum nebenan, auch wenn der Notvorstand sicher Zugang zu Schulz’ Büro hätte. Neef trägt einen Anzug, beige, einen unauffälligen Schlips und ein unpersönliches Lächeln. Seine Antworten fasst er kurz. „Ich komme eher von der Technik“, sagt er. In der Gesamtsynode der Reformierten führt er ehrenamtlich den Vorsitz des Rechnungsprüfungsausschusses.

Reichtum gleich – die Herrschaft Emdens? Die Gleichung geht nicht mehr auf: Heute spielt die Stadt im Armutsbericht eine Hauptrolle

Nein, dass Schulz an allem schuld sei, wird Neef nicht behaupten. Dessen Finanzjonglagen thematisiert er nicht: Kein Wort darüber, dass Schulz eine zweite, L & S-Fonds benannte Stiftung hat eintragen lassen, um sich schneller auf dem Markt bewegen zu können, und die der Staatsanwaltschaft verdächtig vorkommt. Schulzens Kapital-Anlagen nennt Neef „ein bisschen spekulativ“ aber „im Rahmen des Erlaubten“. Die Ankäufe? Immerhin behauptet doch Jann Schmidt, es sei „übermäßig viel“ erworben worden „in den vergangenen Jahren“. Neef konstatiert bloß: „Es hat auch Ankäufe gegeben.“ Sonst nichts.

Für ihn scheint das Ganze eine Frage der Kontrolle. „Ich mache dem Kuratorium sehr große Vorwürfe“, sagt er. Herbe Verluste beim Stiftungskapital gab es schließlich schon 2002, wegen des Börsencrashs. „Da hätte man mit dem Neuaufbau beginnen müssen.“ Schließlich sollten die Zinsen auch „für die Personalbewirtschaftung“ reichen. Und die Zukunft? „Ich bin davon überzeugt, dass die Institution nicht geschlossen bleibt“, sagt Neef, wischt mit der Hand ein imaginäres Stäubchen von der Hose, lehnt sich zurück. Ob er dann deren Leiter sein werde? Neefs Oberkörper strafft sich. Für einen Moment ist das Lächeln fort. „Auf keinen Fall“, sagt er.

Schulz war anfangs ein normaler Dorfpastor gewesen, zwei Gemeinden irgendwo zwischen Greetsiel und Oldersum plus kleine Familie. Nicht ausgelastet, befand die Synode, und dachte an die Bücher: Die sammelt die Emder Gemeinde seit 1559, im Krieg war die Gemeindebibliothek ausgelagert. Ab Mitte der 1970er hatte man einen kleinen Teil der damals 30.000 Bände wieder aufgestellt, in einem Raum am nördlichen Hafenrand. Den und das Lager hätte Schulz einfach betreuen sollen. Aber es kam anders. Schulz muss in den alten Büchern etwas anderes gesehen haben als alte Bücher. Irgend etwas, das ihn antrieb, die Sammlung auszubauen – vervierfacht hat sich der Bestand seither – und sie ins Zentrum der Stadt zu rücken. Etwas, das man eine Ahnung nennen kann von dem, was Emden einmal war: Ein Zentrum mit Strahlkraft.

„Um 1600“, sagt Stadtarchivar Rolf Uphoff, „hatte Emden schätzungsweise 20.000 Einwohner“, mehr als Berlin, Frankfurt oder Bremen. Frei war die Hafenstadt: Die Emder Revolution von 1595 hatte sie autonom gemacht. Und reich. Oh, hätte der gute Geist triumphiert, dann wüssten wir das heute nicht so genau, aber der „Euill Angel“ setzt sich ja durch. Und der empfiehlt Christopher Marlowes’ Doctor Faustus an Ehre zu denken. Und an Wohlstand – ein Stichwort, bei dem Faustus 1604 prompt Emden einfällt: Dass „the signory of Emden shalbe mine“, wünscht er sich.

Reichtum gleich – die Herrschaft Emdens? Heute spielt die Stadt im niedersächsischen Armutsbericht eine Hauptrolle. Schulz hat die Erinnerung geweckt, an eine Zeit, in der die Gleichung möglich war. Er hat sie ausgeschmückt und ihr Gestalt verliehen, hat seine Vision von ihr verteidigt, und seine Kaufentscheidungen. Bei jedem Stück, bei jedem Ankauf, jedem Bild. Mit Leidenschaft und scharfen Worten. Man könnte vermuten, dass er damit Eitelkeiten verletzt hat, persönliche, Rachlust geweckt und Zorn. Aber das kann nicht stimmen: „Zwischenmenschlich“, sagt Jann Schmidt, „gab es keine Probleme.“

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