: Vom Wasser aus sieht man eine andere Stadt
taz-Serie „Polen in einem Tag“ (Teil 5): Stettin und die Oder, das sind nicht nur die Werften und der Hafen der 420.000 Einwohner zählenden Stadt. Die Oder ist auch Teil einer wunderschönen Flusslandschaft, die es zu entdecken gilt
Stettin ist eine Stadt am Wasser. Man spürt es schon, wenn man auf den Wały Chrobrego, den Hakenterrassen, steht, die sich majestätisch über dem Oderufer erheben. Die Stadt und der Fluss, sie sind hier zwei Seiten eines Kunstwerks.
Doch die Oder, das ist in Stettin nicht nur der Fluss, dem die Wały Chrobrego eine Bühne sind. Oder, das ist hier auch Schiffbau, Wasserstraße, Lebensader. Nur wenige hundert Meter oderabwärts beginnt die Stocznia Szczecińska, die Stettiner Werft. Bis zum Jahr 2001 galt diese als erfolgreichste Werft im ganzen Ostseeraum, erzählt Matthias Enger. Kurz danach ging sie Pleite. Was dieser Pleite folgte, ist für das privatisierungswütige Polen ungewöhnlich. Die Stocznia Szczecińska wurde wieder verstaatlicht. Heute arbeiten in Stettin mit seinen 420.000 Einwohnern wieder 10.000 Menschen auf den vier Werften der Stadt sowie 6.000 in der Verwaltung des Hafens.
Auch Matthias Enger hat sich Stettin und seine Wasserlage zum Broterwerb gemacht, allerdings nicht als Hafenarbeiter oder Schiffbauer, sondern als Fremdenführer. Seit 1992 organisiert er zusammen mit seiner Frau Teresa Kurowska Stadtrundfahrten, Stadtspaziergänge und Ausflüge in und um Stettin. Die führen aber nicht nur in die Altstadt, sondern auch auf die Oder, in die Seenlandschaft rund um den Dąbie-See und ins Stettiner Haff.
Es ist eine überraschende Landschaft einer Stadt, die Enger einem von der Wasserseite aus zeigen kann. Kaum hat man den Anleger an den Hakenterrassen und die Werften hinter sich gelassen, öffnet sich eine Flusslandschaft, die rundherum einem Märchenbuch entsprungen sein könnte. Die Ufer sind von wilden Gräsern bewachsen, hinter jeder Kurve bietet sich ein neuer Anblick. Doch die Idylle auf der Święta, diesem Seitenarm der Oder, trügt. „Hier steht nichts unter Naturschutz“, sagt Enger. „Rechtlich gesehen ist hier alles Hafenerweiterungsgebiet.“ Sollte die Stettiner Werft also wieder einmal boomen, wäre es an der Święta aus mit der Idylle.
Gleich hinter der Święta geht es in den Dąbie-See, einen riesigen Binnensee vor den Toren der Stadt, in dem sich das Süßwasser der Oder mit dem Salz- und Brackwasser des Haffs mischt. Was für Badefreunde ein Hindernis sein mag, ist für Naturliebhaber ein Ort der Entdeckungen. „Einmal hatte ich eine holländische Reisegruppe“, erinnert sich Enger. „Die haben gefragt, ob sie Biber und Dachse sehen können.“ Kein Problem, hat ihnen Enger geantwortet, und die Seeadler, die bekommen sie gleich noch dazu.
Kein Zweifel, Matthias Enger und Teresa Kurowska haben mit ihren Bootsfahrten eine Marktlücke entdeckt. Wo sonst nur Butterschiffe mit Schnäppchenjägern unterwegs waren, haben sie sich den sanften Tourismus auf die Fahne geschrieben. Und der reicht nicht nur bis zur Święta oder dem Dąbie-See, sondern bis ins Stettiner Haff. Kaum hatte die Naturfreunde-Internationale das Haff 1992 als „Landschaft des Jahres“ gekürt, gab Enger einen Radführer heraus, „einen, der nicht wie die anderen an der deutschen oder der polnischen Seite Halt macht“. Einer Umrundung des Haffs steht nun nichts mehr im Wege.
Zurück auf den Hakenterrassen, kann man seine Stettin-Tour entweder im 1913 erbauten Meeresmuseum beenden. Oder man kann bei einem Bier auf die gegenüber liegende Oderinsel schauen, die von dieser Seite aus wie unbewohnt aussieht. Seit der Bootsfahrt allerdings weiß man: Sie ist bewohnt. Hunderte von Werftarbeitern haben sich hier zu Solidarność-Zeiten eine Datsche organisiert und weigern sich seitdem, die Insel zu verlassen. „Auch ein Stück Sozialgeschichte“, sagt Enger. Manchmal erfährt man von der Flussseite aus mehr über eine Stadt als auf ihren Marktplätzen. UWE RADA
Stettin erreicht man mit der Bahn über Angermünde. Die Firma von Matthias Enger und Teresa Kurowska findet man im Internet unter www.inet.com.pl/mtm/tour.htm Nächste Woche: das Warthebruch
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