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Man soll den Senf nicht in der Tube loben

Berlin ist auf Senf gebaut: Wieder und wieder wird einem diese Erkenntnis an den Currywurstbuden dieser Stadt auf die Wurst geklatscht

„Bitte nicht ganz so viel Senf“, mache ich nach fast 20 Jahren noch immer den gleichen Fehler. Ich habe mich an fast alles hier gewöhnt: an die schnippische Feindseligkeit in Ämtern, Geschäften und Lokalen, an den geschlossenen Kotteppich auf den Gehwegen, den albernen Plusquamperfekt und daran, dass im Laufe der Jahre fast sämtliche Buchhandlungen durch Bordelle ersetzt worden sind. Nur an den „Sönf“ habe ich mich nie gewöhnt.

Senf muss hier so eine Art Nationalheiligtum sein. Man bekommt immer, überall und auf alles Unmengen Senf draufgeklatscht. Will man weniger Senf, verletzt man den Stolz der Einheimischen und kriegt, damit man sich’s merkt, noch mehr Senf auf seine winzige Wurst, die so genannte Rostbrat, ein dürres Etwas. Besser also, man bittet nicht um weniger Senf, doch für mich kommt die Einsicht heute mal wieder zu spät.

„So, schitteböhn“, überreicht mir der Imbissmann einen Senfhaufen, aus dem an einer Seite immerhin noch die Ahnung eines altbackenen Brötchens lugt.

Ich bedanke mich und kann, weil ich das Ding schon in der Hand halte, mir die Provokation nicht verkneifen: „Und, wo ist die Wurst?“ Bei diesen Worten springe ich ein paar Meter zurück, denn sonst würde es auf der Stelle Nachschlag geben.

„Is drunter“, sagt er erstaunt, „wie – war dit nonni jenuch jewesen?“ Er greift nach seinem riesigen Senfeimer und schlenzt mit einer Schippe eine Ladung Senf in meine ungefähre Richtung, verfehlt mich jedoch um Haaresbreite. Dennoch bin ich bereits nach wenigen Schritten über und über mit Senf besudelt. Ich trage zwar nur senffarbene Kleidung, sie schillert dennoch in sämtlichen Zwischentönen der Berliner Nationalgerichte: Senf mit Bulette, Senf mit Ketchup und Majo, Senf mit Senf …

Vielleicht kann uns die Geschichte helfen, mehr Licht in das Verhältnis der Berliner zu ihrem Senf zu bringen: Als im 12. Jahrhundert Schwaben das Land besiedelten, erlernten sie von der slawischen Urbevölkerung den Senfanbau – etwas anderes gedieh nicht im kargen märkischen Sand. Dafür wuchs der Senf um so besser. Man nutzte ihn als Ersatz für Salz, für Zucker und überhaupt als Grundnahrungsmittel. Bald handelte man auch damit und begründete so den späteren Reichtum Preußens. Während Wurst als angeblicher Auslöser der Pest verdammt und zeitweise auf Scheiterhaufen gegrillt wurde, galt Senf rasch als „Gold der Steppe“, „Preußengold“ und schließlich „Gold aus der Tube“. Der Großvater Friedrich Wilhelms des Ersten, des berühmten „Senfkönigs“, holte Hugenotten ins Land, um die eigene Rezeptur mit Dijon-Senf zu verfeinern. Ein zeitgenössischer Stich zeigt den Großen Kurfürsten, wie er, in einer Senfte sitzend, in der Nähe von Senftenberg die brandenburgischen Senfbauern bei der Ernte anfeuert. Wohl aus dieser Zeit stammt auch die beliebte Redensart „Quatsch keen Senf!“.

Mein Spaziergang führt mich am Türkischen Friedhof vorbei zum Flughafen Tempelhof. Der gelbe Schleim brennt mittlerweile überall, auf den Händen, in den Augen und sogar im Mund. Er verkleistert die Haare, die Harnröhre und das Trommelfell, doch dafür bin ich schon fast bis zur „Wurst“ durch. An diesem historischen Ort wird jeden Sonntag auf dem von StattReisen organisierten „Senfpfad“ an die jüngste Geschichte des Senfs erinnert, die ihm endgültig zu einem Ehrenplatz in den Herzen der Berlinerinnen und Berliner verhalf – die Senfbrücke 1948/49.

An den heldenhaften Einsatz der alliierten Piloten, die die Stadt 462 Tage lang aus der Luft mit Senf versorgten, gemahnt noch die hier ausgestellte C-54 „Senfmaster“, der gute alte Senfbomber. Woher dagegen die Quatschbezeichnung „Rosinenbomber“ stammt, ist unklar. Neider? Fanatische Wurstfreunde? Auch die deutsche Nachkriegsgeschichte harrt noch immer einer tabulosen Aufbereitung.

ULI HANNEMANN

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