: Was singen die Amseln?
Morgens, abends, manche den ganzen Tag: Die Amseln bestimmen zurzeit das Klangbild der Städte. Sie lernen ihre Melodien von ihren konkurrierenden Amselnachbarn und vom Menschen. Handytöne, Verkehrslärm und Sirenentöne sind Vorlagen für den Amselgesang. Der Aufbau ihrer Sprache ist zwar entschlüsselt – deren Inhalt aber noch lange nicht
VON CORD RIECHELMANN
Wir hören nur uns. Denn wir werden allmählich blind für das Draußen.
Ernst Bloch, „Geist der Utopie“
Wenn er nur genau genug zuhöre, hat Rainald Goetz einmal notiert, dann werde das schon klappen mit der schriftlichen Aufzeichnung der Vogelgesänge im Frühling in der Umgebung des Literarischen Kolloquiums am Wannsee in Berlin.
Die Sprache der Vögel
Goetz, im Frühjahr 1986 Stipendiat im Haus der Literaten, hat das Projekt, bis auf den Grund des Sprachlichen, Buchstäblichen der Vogelrede vorzudringen, dann aufgegeben und erst viel später im Roman „Abfall für alle“ 1999 davon berichtet. Ihn hatte wahrscheinlich nicht nur die Diffusität des unerforschten Vielklangs der Vögel um das Haus am See abgehalten. An einer anderen Stelle erzählt er von einem Freund, der ihm später klar gemacht habe, welches Equipment man benötigt, um nur dem Gesang eines Vogels im Schilf, Baum oder auf dem Dach aufzeichnend so nahe zu kommen, dass man ihn einem Individuum zuordnen kann.
Unser Ohr taugt wenig
Das menschliche Ohr taugt bei einer solchen Identifizierung nicht mal bedingt. Es versagt. Und darum scheint der Vogel in der Stadt zu wissen, und zumindest eine Art, die Amsel, geht in gewisser Weise auf die so genannten Hörgewohnheiten von Menschen ein.
Es muss für Amseln zurzeit wohl sehr einfach sein, sich in den Städten mit Nahrung zu versorgen. Schon ab vier Uhr morgens sind überall die Motive ihrer weitreichenden Reviergesänge zu hören. Und nur wer mehr als genug zu fressen hat, kann die melodischen Strophen derart ausdauernd aneinander reihen, dass sie jeden Morgen und Abend – in Einzelfällen auch den ganzen Tag lang – flächendeckend die Präsenz des jeweiligen Sängers in seinem Territorium anzeigen.
Denn Singen kostet Kraft und erhöht zudem die Gefahr, von Fressfeinden entdeckt zu werden. Außerdem erfordert der Vortrag mehr als nur die Produktion des eigenen Repertoires. Amselhähne verfolgen die Gesänge ihrer benachbarten Rivalen sehr genau. Wenn man zwei in unmittelbarer Nachbarschaft singenden Hähnen länger zu hört, kann man mit ziemlicher Sicherheit ein Phänomen beobachten, das zwar auch bei anderen Vögeln vorkommt, bei Amseln aber zuerst beschrieben wurde. Ein Motiv oder auch eine ganze Strophe wechselt gleich klingend von einem Sänger zum Nachbarn. Das heißt, einer kontert den Gesang des anderen mit derselben Tonfolge. Das tun sie in unregelmäßigen Abständen und mit gesteigerter Rivalität immer häufiger.
Wo besonders viele Amseln sehr dicht nebeneinander singen, kann man dabei frühmorgens hören, wie eine Strophe eine ganze Straße „hochwandert“ und wieder zurück gesungen wird, von ungefähr zehn verschiedenen Hähnen. Mit dem Kontergesang konkurrieren sie aber nicht nur, sie zeigen damit auch, dass sie sich kennen und aus derselben Gegend stammen.
Amseln bleiben das ganze Jahr über in der Stadt und begegnen sich in den Parks, auf den Friedhöfen und Grünstreifen auch ständig. Dabei umkreisen sie sich häufig, verfolgen sich und fallen auch manchmal übereinander her. Die Heftigkeit der Streitereien variiert stark mit der Jahreszeit – ähnlich wie die Lautstärke ihrer Gesänge. Dass sie jetzt besonders laut von exponierten Balkonen, Dachrinnen oder Straßenbaumgipfeln singen, hängt damit zusammen, dass die Tage länger werden, die Sonne kräftiger scheint und die Partnersuche beginnt.
Ihre Lieder werden aber nicht nur lauter, sondern auch besser. Die Pausen werden exakter gesetzt, die Motive abgestimmter und die Melodien variantenreicher. Was besonders in Städten auch einen Einblick in ihre Vorbilder gestattet. Sie lernen ihre Töne nämlich nicht nur von ihrern am Nest singenden Eltern. Sie übernehmen auch menschliche Pfiffe, Handyerkennungsmelodien, Verkehrslärm oder Sirenentöne – auch wenn sie diese nur einmal kurz gehört haben. Diese Klänge bauen sie stets so in ihre Strophen ein, dass der Menschenohren gefällige Klang des Gesangs erhalten bleibt.
Der heute fast vergessene Komponist Heinz Tiessen (1887 bis 1971) kam denn auch nach dem Studium des Amselgesangs zu dem Schluss, dass die Vögel ihre Vorträge komponieren. Tiessen sammelte Vogelgesänge, hörte aufmerksam zu und zeichnete das Gehörte in Notenschrift auf. Und schon im Titel seiner 1953 erschienen Abhandlung „Musik der Natur. Über den Gesang der Vögel, insbesondere über Tonsprache und Form des Amselgesanges“ scheinen implizit die Schwierigkeiten auf, die die Übertragung von Vogelgesängen in menschliche Sprache bereiten.
Tiessen konzentrierte sich vernünftigerweise auf die Amsel. Denn über ihre Häufigkeit hinaus bietet ihr Gesang tatsächlich einige Vorteile für die Analyse ihres Tuns. Amseln singen strophig. Das heißt, zusammenhängende Gesangsstücke von zwei bis fünf Sekunden Dauer werden von ebenso langen Pausen unterbrochen, bevor die nächste Strophe gesungen wird. Formal kann man die Strophen mit den Sätzen der menschlichen Sprache vergleichen.
Bis zu dreißig Strophen
Amselhähne haben bei erheblichen individuellen Schwankungen im Schnitt etwa dreißig verschiedene Strophentypen in ihrem Repertoire, die sie in verschiedenen Folgen aneinander reihen. Und mit der Analyse der Frequenzspektrogramme der Strophen, ihrer Anordnung und ihrer Reaktionen auf benachbarte Sänger fand man tatsächlich syntaktische Ähnlichkeiten zum menschlichen Sprachaufbau.
Aber man fand noch etwa anderes. Für Menschen tonal klingende Motive im Gesang der Vögel wiesen bei genauen Analysen erhebliche Frequenzmodulationen auf, die Menschen entweder nicht wahrnehmen können oder wollen, in dem sie sie hörend harmonisch zurechtbiegen. Wenn Tiessen also folgert, die Amsel sei, mit den menschlichen Maßstäben von Melodik, Harmonik und Rhythmik gemessen, der musikalisch höchststehende Singvogel Mitteleuropas, könnte das einen doppelten Grund haben. Einmal können es die menschlichen Hörgewohnheiten sein. Und zum Zweiten könnte sich die Amsel die Harmonik der Klänge auch abgeschaut haben.
Für einige Ornithologen ist es deshalb bis heute fraglich, ob der tonale Aufbau der Strophen „nicht im Kern menschlichen Ursprungs ist“ und eine Folge der Landflucht. Amseln stammen ursprünglich aus den dunkelsten Biotopen feuchter, unterholzreicher Wälder und begannen erst Ende des 18. Jahrhunderts, die Städte zu erkunden. Am Anfang flogen sie nur durch, dann blieben einige als Wintergäste hängen und blieben auch über den Sommer. Sie wurden überall, wo sie einmal brüteten, in wenigen Generationen Standvögel, vermehrten sich außergewöhnlich stark und wurden bald als „dreister Gartenvogel“ beschrieben.
Es ist heute nur noch schwer festzustellen, wie die Entwicklung zu Harmonie und eingebautem Handyklingeln im Gesang sich vollzog. Die meisten Amseln haben die schwarzen Wälder, in denen sie gut getarnt waren, längst verlassen und sind auf die Ampelmasten, Dachfirste und Fersehantennen der Städte gezogen.
Der Journalist und Schriftsteller Dietmar Dath muss etwas von der Unerklärlichkeit des Inhalts geahnt haben, als er einer seiner schönen Geschichten den Titel „Dreizehn Möglichkeiten, eine Amsel zu ignorieren“ gab. Wer aber der Amsel nicht ausweichen will, kann jetzt in der Stadt spazieren gehen und im Gesang der schwarzen Sänger viel darüber erfahren, wie sie miteinander singen.
Was sie sich aber mitteilen, bleibt bis auf weiteres im Dunkeln. Das Buchstäbliche des Gesangs, also das, was sie sich da andauernd erzählen, ist noch unerklärt. Und die Verwirrung wird in den nächsten Tagen zunehmen. Mit den Zugvögeln werden ab Mitte April Nachtigallen ins Land kommen. Und Tiessen muss dann in seiner merkwürdigen Hierarchisierung des „höchststehenden Singvogels“ korrigiert werden. Nachtigallen können in manchen Fällen auf ein Repertoire von zweihundert Strophen zurückgreifen und komponieren sie nicht weniger rhythmisch begabt als Amseln.
Wozu sie allerdings so viele Sätze brauchen – wo doch Buchfinken zum Beispiel mit fünf Strophen auskommen und auch nicht weniger Weibchen anlocken und Junge großziehen –, weiß man nicht. Jedenfalls lassen sich die fünf, dreißig oder zweihundert Strophen nur schwer – oder gar nicht – ins Alphabet übersetzen.
Der Ton macht zwar die Musik, aber nicht den Text.
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