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„Wir nehmen den Kindern alles ab“

Bruno Labbadia, 42, Bundesliga-Trainer von Bayer Leverkusen, war eines von neun Kindern italienischer Einwanderer – und hatte eine tolle Kindheit. Weil Geld damals noch keine so große Rolle spielte. Und heute?

BRUNO LABBADIA

Geboren: 8. Februar 1966 in Darmstadt, als jüngstes von neun Kindern einer italienischen Einwandererfamilie. Nahm 1984 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Wohnt in Pulheim. Verheiratet, zwei Töchter.

Ist: Trainer des Bundesligisten Bayer Leverkusen (5. Tabellenplatz, 32 Punkte, 36:21 Tore). Nach Darmstadt 98 (Aufstieg von der Hessen- in die Regionalliga) und Greuther Fürth (Zweite Liga) die dritte Trainerstation. Zuvor: Stürmer bei acht Proficlubs („Ich bin die Nummer 9 – schon von Geburt an“). Unter anderem bei Darmstadt 98, beim 1. FC Kaiserslautern (DFB-Pokalsieger 1990, Deutscher Meister 1991), bei Bayern München (Deutscher Meister 1994), 1. FC Köln und Werder Bremen. Beendete seine Profikarriere 2003 beim Zweitligisten Karlsruher SC. Kam auf 328 Bundesligaeinsätze (103 Tore), 229 Zweitligaspiele (101 Tore) und zwei Länderspiele. Sagt: „Das Wichtigste, wovon meine Arbeit geprägt ist, ist Respekt.“

Zum Gespräch traf sich Labbadia mit taz-Autor Daniel Theweleit in den provisorischen VIP-Räumen hinter der Großbaustelle BayArena. Frisch geduscht kam Labbadia nach dem Vormittagstraining in das unbeheizte Zelt. Es war kalt. Aber der junge Trainer würde sich über so etwas nie beschweren.

Interview Daniel Theweleit

taz: Herr Labbadia, einer der zentralen Begriffe Ihres ersten halben Jahres als Bundesligatrainer war „das Ego“, das Ihre Spieler entwickeln sollen. Ist denn Bayer Leverkusen ein Kollektiv aus Egoisten?

Bruno Labbadia: Nein, ich meine damit nicht Egoismus. Wir glauben, das „Ego“, das „Ich“, ist der größte Antrieb in einem Menschen. Jeder muss seine persönlichen Ziele haben, und die muss er konsequent verfolgen. Wer darin zielstrebig ist, der wird auch Erfolg haben.

In einer Gruppe, die nach diesem Prinzip funktioniert, kommen gewöhnlich einige Mitglieder böse unter die Räder.

Das Rezept dagegen ist Ehrlichkeit. Die Spieler müssen wissen, dass ein Trainer zu seinen Ankündigungen steht. Ich komme da selber manchmal in die Situation, dass ich gerne etwas anders machen würde, als ich zugesagt habe. Aber wenn ich eine Zusage gemacht habe, dann wird das auch so eingehalten. Die Spieler müssen im Trainer eine Verlässlichkeit sehen.

Wo bleiben in diesem Ansatz Werte wie Solidarität und Gemeinschaftssinn?

Natürlich müssen die Spieler – und auch ich selber – das persönliche Interesse und die eigenen Stärken in das Gefüge einer Mannschaft einbringen. Viele sagen, man muss sich unterordnen, ich sage: Man muss sich einordnen. Dahinter steckt aber immer das Ziel, über den Mannschaftserfolg einen persönlichen Erfolg zu haben. Das Wort Ego hat einen Negativtouch, den ich so nicht teile.

Das klingt sehr nach den Leistungsprinzipien der Wirtschaftselite. Viele Menschen entwickeln ihre Fähigkeiten aber besser, wenn sie in einem Umfeld mit weniger Leistungsdruck agieren können.

Als Fußballtrainer braucht man da ein sehr feines Gefühl. Der eine Spieler braucht mehr Streicheleinheiten, der andere braucht eher eine härtere Hand, aber das liegt ja an uns. Man muss dafür ein Gespür entwickeln. Eines ist aber eine Utopie: dass alle Spieler einer Fußballmannschaft sich gerecht behandelt fühlen.

Es gibt im Fußball immer diese Floskel von der ausgleichenden Gerechtigkeit. Glauben Sie daran?

Ich tue mich damit schwer. Allerdings glaube ich, dass man sich zumindest das langfristige Glück erarbeiten kann. Mit viel Willenskraft und Engagement. Und das ist vielleicht sogar ein Stück einfacher als früher. Denn viele Leute sind nicht mehr bereit, viel zu investieren. Das liegt daran, wie unsere Kinder aufwachsen.

Sie entstammen einer italienischen Einwandererfamilie mit wenig Geld, haben acht Geschwister, das klingt eher nach einer schwierigen Kindheit. Offenbar haben Sie trotzdem die richtigen Qualitäten mitgenommen.

Ich glaube, zu meiner Zeit war es einfacher, mit weniger Geld zurechtzukommen. Der Unterschied zwischen den Leuten, die viel Geld hatten, und den Leuten, die weniger Geld hatten, war nicht so offensichtlich. Es hilft einer Gemeinschaft immer, wenn eine gewisse Nähe zwischen den Besten und den Schwächeren gewahrt wird.

Alle klagen über die Schere zwischen Arm und Reich, die in unserer Gesellschaft weiter aufgeht. Lässt sich diese Entwicklung bremsen?

Schwer zu sagen, weil dieses Thema sehr komplex ist, um es in Kürze abzuhandeln. Ich hatte aber eine tolle Kindheit, obwohl wir nicht viel Geld hatten. Das ganze Drumherum war einfach nicht so aufgeblasen. Heute brauchen die Kinder technische Geräte, Markenkleidung und so weiter, weil sie sonst schnell zu Außenseitern werden. Meine acht Geschwister und ich können auch ohne solche Dinge stolz darauf sein, was unsere Eltern geleistet haben. Das kann man gar nicht groß genug einschätzen, die sind hierher gekommen mit nichts, haben neun Kinder großgezogen, ein Haus abbezahlt, das war eine große Leistung.

Glauben Sie, Ihre Eltern würden das heute auch noch so hinbekommen?

Es ist in jedem Fall komplizierter. Es gibt viele Schulen, die bezahlt werden müssen, dann kommt ein Studium oder Ähnliches, auch das kostet inzwischen viel Geld. Und beim Einstieg in den Beruf läuft heute sehr viel über Beziehungen.

Das große Ideal von der Gesellschaft, die Leistungen gerecht honoriert, ist also ein Märchen?

Ich glaube, dass sich gute Arbeit und Engagement immer noch durchsetzen. Damit kann man sich immer noch von vielen Leuten absetzen und sehr viel erreichen. Vielen fällt das aber schwerer als früher. Denn die meisten Kinder werden so großgezogen, dass es ihnen sehr gut geht, dass ihnen sehr viel abgenommen wird und sie nicht die Erfahrung machen, sich durchboxen zu müssen. Wer sich durchboxen muss, der kann dann am Ende wieder einen Vorteil bekommen. Gute Arbeit und Beharrlichkeit zahlen sich immer noch aus.

„Als René Adler sein erstes Länderspiel gemacht hat, wurde ich sofort gefragt: Muss man den jetzt runterholen? Warum sollte ich den runterholen?“

Viele von denen, die sich zu einem besseren Leben durchboxen müssen, scheitern aber, weil sie gegen Widerstände kämpfen, die kaum zu überwinden sind.

Absolut. Das Großwerden ist ein Stück anders als zu unserer Zeit. Wir müssen einfach alles tun, dass jedes Kind gefördert wird. Aber aus dieser Haltung heraus gelangt man leicht zu einem Trugschluss: Wir nehmen den Kindern alles ab. Besser wäre, die Kinder und übrigens auch die Fußballspieler zu mehr Verantwortung erziehen, zu mehr Selbstständigkeit. Jedes Kind, jeder Jugendliche bekommt Konflikte abgenommen, aber später müssen sie solche Situationen dann selber lösen. Menschen sollten lernen, dass sie für Dinge geradestehen, dass sie, wenn es mal nicht läuft, nicht sofort aufhören. Und Eltern, Lehrer oder Trainer müssen, auch wenn es mal schwieriger wird, sagen: Ne, du kriegst das Problem jetzt alleine gelöst, du bleibst da dran, du kannst das.

Kennen Sie die Ursache für die grassierende Neigung, alle Härten des Lebens von Kindern fernzuhalten?

Wir haben heute eine andere Form der Zuneigung der Eltern zu ihren Kindern. Man kann nicht sagen, mehr Zuneigung, es ist eine andere Art. Die Kommunikation hat sich verändert, wir nehmen unsere Kinder öfter in den Arm, man begreift Kinder stärker als Partner. Wenn früher ein Kind nach Hause gekommen ist und sagte: „Boah, der Lehrer hat mich ausgeschimpft“, haben die Eltern gefragt: „Was hast du schon wieder gemacht?“ Heute sagen viele Eltern: „Da gehe ich sofort zum Lehrer, das lassen wir uns nicht bieten.“ Wir leben intensiver mit den Kindern, sie haben viel mehr Mitspracherecht. Wir machen alle den Fehler, dass wir unseren Kindern zu viel abnehmen.

Herr Labbadia, einer Ihrer Spieler ist Constant Djakpa, ein 22-jähriger Junge von der Elfenbeinküste, der wahrscheinlich an einem Tag mehr verdient als seine Eltern in einem Jahr. Gibt es für so einen Spieler so etwas wie Gerechtigkeit?

Man merkt, wenn ein Spieler eine ganze Großfamilie unterstützen muss. Da sind wir wieder beim Ego. Das ist ein gewaltiger Antrieb. Die einen haben den Antrieb, dass sie zu Ruhm kommen wollen, dass sie im Mittelpunkt stehen möchten. Mit dem Geld vielen Leuten zu helfen, ist natürlich ein super Anreiz. Ganz wichtig ist aber für diese jungen Spieler, die plötzlich sehr viel Geld haben, dass sie ihre Wurzeln nicht aus den Augen verlieren. Dass sie immer genau wissen, dass ihr Erfolg nicht selbstverständlich ist. Viele Menschen neigen in unserer schnelllebigen Zeit dazu zu vergessen, dass sie vor einem Jahr oder vor drei Jahren nichts hatten. Das ist der Punkt, und da arbeite ich auch an mir selbst. Ich versuche nie zu vergessen, was ich mir erarbeiten musste, wo ich noch vor drei Jahren gearbeitet habe. So kann ich das Heute schätzen.

Gab es in Ihrer Jugend noch andere wichtige Autoritätspersonen als Ihre Eltern?

Meinen Jugendtrainer nenne ich noch heute meinen sportlichen Ziehvater. Das war einfach ein besonderer Mensch, der hat uns nicht nur sportlich geformt, sondern auch menschlich. Von ihm habe ich sehr viel mitgenommen.

War das einer dieser Ehrenamtlichen der klassischen Prägung, der in seiner Freizeit Jugendteams betreute?

Ja genau. Der hatte eine Metzgerei. Er hat mich und meinen Jahrgang durch die gesamte Jugend des SV Weiterstadt begleitet. Wir haben durch ihn Dinge erlebt, da frage ich mich heute noch, wie er das gemacht hat. Wir waren drei Mal auf Turnieren in Holland, waren in Ungarn, drei Mal in Frankreich. Und einmal sind wir zu einem Uefa-Cup-Spiel zwischen dem 1. FC Köln und dem AS Rom gefahren, 1982 war das. Da musste er am nächsten Tag um fünf Uhr aufstehen, wir sind trotzdem mit seinem Metzgerauto zurückgefahren, die Mannschaft hintendrinnen. Wir sind dann immer wieder kurz auf den Parkplatz gefahren, der Trainer schlief drei Minuten, und dann ging es weiter.

Was haben Sie von diesem Mann konkret gelernt?

Wie unterschiedlich man mit unterschiedlichen Menschen umgehen muss. Zum Beispiel konnte ich zu Pelé reisen, weil ich einen Wettbewerb gewonnen hatte. Und wenn man dann als 13-Jähriger in allen Gazetten ist, dann verliert man schon mal die Bodenhaftung. Dann brauchte ich Leute, die es gut mit einem meinen, die einen runterholen und auf der menschlichen Ebene etwas vermitteln. Mittlerweile ist mein Jugendtrainer Taufpate meines Sohnes. Als Trainer vermittelt man auch Dinge des Alltags. In Leverkusen sitzen wir beim Abendessen jetzt länger zusammen als die üblichen 15 oder 20 Minuten, das gehört für mich zur Persönlichkeitsentwicklung. Ich möchte den jungen Spielern beibringen, dass Essen ein Genuss und nicht nur schnelle Nahrungsaufnahme ist.

Haben Sie noch Kontakt zu diesem Ziehvater?

Wir treffen uns mit dieser Mannschaft immer noch einmal im Jahr kurz vor Weihnachten. Die Jungs sind über ganz Deutschland verstreut, aber wir kriegen es immer hin, dass wir alle zusammenkommen, Fußball spielen, dann gehen wir essen. Der Trainer ist derjenige, der das alles zusammenhält. Es ist Wahnsinn, was ein Trainer einem mitgeben kann, wenn die Spieler aufnahmebereit sind.

„Der Unterschied zwischen den Leuten, die viel Geld hatten, und den Leuten, die weniger Geld hatten, war nicht so offensichtlich“

Es fällt auf, dass schwierigere Charaktere, kantige Typen, kaum noch auftauchen in der Bundesliga. Liegt das auch daran, dass Trainer mittlerweile vor solchen Spielern zurückschrecken? Die Nationalmannschaft besteht aus lauter braven Schwiegersöhnen, und Widerständler wie Michael Ballack oder Torsten Frings werden massiv bekämpft.

Wir lassen keine Typen mehr groß werden. Als unser Torhüter René Adler sein erstes Länderspiel gemacht hat, wurde ich sofort gefragt: Muss man den jetzt runterholen? Warum sollte ich den runterholen? Ich muss ihn begleiten, ihn fördern, sehen, dass er seine Entwicklung weitermacht. Wir können nicht immer nach Typen schreien und dann glauben, sie in eine bestimmte Form pressen zu müssen. Wir müssen Leute animieren, Typen zu werden.

Das klingt, als würden heute lauter technisch und taktisch komplett ausgebildete Fußballer mit schwacher Mentalität ausgebildet werden?

Nein, das zu sagen wäre auch falsch. Früher waren andere Dinge schlecht. Wir müssen einfach mit der Zeit gehen und Konzepte finden, mit den Kindern und Jugendlichen umzugehen. Das betrifft natürlich auch die Fußballspieler, die ich als Fußballlehrer ausbilden muss. Bedenklich ist nur die zunehmende Bedeutung von Geld. Es ist enorm wichtig, dass wir den Kindern, die nicht das Geld haben, auch eine gute Bildung ermöglichen, da sind wir momentan aber auf keinem sehr guten Weg.

Oft wird Fußball als Miniaturausgabe der richtigen Welt betrachtet. Trifft es auch auf andere Gesellschaftsbereiche zu, dass ein bestimmter Typus des angepassten Bürgers die besten Entwicklungschancen hat, während alle anderen schnell zu Außenseitern werden?

Ich glaube schon, dass der Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Aber ich denke, dass der Fußball an diesem Punkt sogar noch einen Vorteil gegenüber anderen Gesellschaftsbereichen hat. Gerade Jugendmannschaften sind mit sehr vielen Zuwandererkindern bestückt. Weil die noch mehr bereit sind, permanent auf der Straße zu kicken, im Training zu arbeiten, auf dem Bolzplatz rumzuhängen.

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