: Gott zitiert Suren
Kanzler Schröder reist heute in die Niederlande. Dort wird geradezu hysterisch über die muslimische Minderheit diskutiert – gemeint ist damit eigentlich die unfähige Politelite
Niederländer denken gern, sie seien nüchterne Menschen. Das müssen wir einfach sein, denken sie. Denn selbst wenn man mit seinem Nachbarn nie einer Meinung ist, kann es doch jederzeit passieren, dass man mit ihm Sandsäcke voll schaufeln muss, während die Sturmflut aufläuft und der Deich zu brechen droht.
Aber sind sie wirklich so nüchtern, diese wassererprobten Deltabewohner? Oder ist es nur ein Image, das sie gern pflegen? Wer die Minderheitendebatte verfolgt, die seit zwei Jahren in den Niederlanden tobt, der wird wenig Nüchternheit feststellen. Die leidenschaftliche Diskussion erinnert eher an einen Religionskrieg.
Eine Million Muslime leben inzwischen unter den übrigen 15 Millionen Niederländern, und sie werden heftig zur holländischen Ordnung gerufen. Das ist neu und eine Hype-artige Reaktion auf die unverbindliche Toleranz, mit der ihnen bis vor kurzem begegnet wurde.
Nüchtern? Wer es vor fünf Jahren wagte, auch nur ein böses Wort über die Neuankömmlinge zu sagen, der wurde von der gesamten Politik – von links bis rechts – abgestraft. So jemand stigmatisierte, diskriminierte und kannte, um es kurz zu sagen, keinen sozialen Anstand. Wer umgekehrt jetzt ein gutes Wort für die muslimischen Einwanderer übrig hat, der bekommt erneut Wind von vorn – und wieder von rechts bis links. Diesmal versteht so jemand nicht, dass eine Gesellschaft gefährdet ist, wenn eine ansehnliche Minderheit nicht die Normen und Werte der Mehrheit akzeptiert.
Es scheint, als ob die Niederländer erst jetzt bemerkten, dass sich ihr Land tief greifend verändert hat. Und dass es vor allem die Muslime sind, die dafür büßen müssen, dass die Niederlande nicht mehr das übersichtliche Drogerielädchen wie weiland unter Königin Juliana sind, als noch von den Katholiken bis hin zu den streng Reformierten jeder in seiner eigenen Schublade mit seinem eigenen Etikett hocken konnte. Diese Illusion haben die Migrantenströme unsanft gestört.
Wie heftig die Einwanderungsdebatte inzwischen geführt wird, stellte sich unlängst heraus, als die Enquetekommission „Einbürgerung von Minderheiten“ ihren Endbericht vorlegte. Sie kam zu dem Schluss, dass die finanziell üppige Integrationspolitik gescheitert sei. Gleichzeitig stellte der Bericht aber fest, dass viele Minderheiten dennoch integriert sind – und zwar trotz der offiziellen Politik. Obwohl das Parlament die Kommission selbst berufen hatte, fiel es nun von rechts bis links über die Ergebnisse her. So wie man bis vor kurzem nicht sagen durfte, dass es vielleicht mit der toleranten Gesinnung einiger Neuankömmlinge hapern könnte, so ist es nun ein Tabu, zu sagen, dass mancher von ihnen die demokratischen Anforderungen bestens erfüllt.
Nüchtern? Bekannte Kolumnisten geben öffentlich bekannt, dass sie nun schweigen werden, weil sie sich wegen ihrer Islamkritik nicht mehr ohne Personenschutz auf die Straße trauen könnten. Sie fürchten die „linke Gefahr“. Ein nachdenklicher Mann wie der Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen, der ruhiges Abwägen nicht falsch findet, bekommt von rechts täglich zu hören, dass er ein Schwächling sei, der die große Gefahr der „Ziegenficker“ ignoriere. Und im jüngsten Wahlkampf tat sich jeder Spitzenkandidat mit rabiaten Forderungen hervor, wie den Minderheiten endlich holländische Sitten eingebläut werden könnten.
Seit dem Zweiten Weltkrieg („Wir sind kein Einwanderungsland“) haben die Niederlande nie eine Einwanderungspolitik gekannt. Dennoch musste das Land diverse große Einwanderungswellen verkraften. Zunächst kamen die so genannten indonesischen Niederländer, die 1949 nach der Unabhängigkeit herbeiströmten und mit der niederländischen Gesellschaft geräuschlos verschmolzen. Es folgten, ebenfalls nach dem Ende der Kolonialzeit, die Surinamer. Ihre Ankunft verlief alles andere als geräuschlos, aber inzwischen sind ihre Kinder schulisch fast so erfolgreich wie der niederländische Durchschnitt.
Der dritte große Strom waren dann die so genannten Gastarbeiter, vor allem aus der Türkei und Marokko. Sie kamen, um wieder zurückzugehen, doch sie blieben. Und bis heute holen sie ihre Frauen und ihre Kinder, ihre Bräute und ihre Ehemänner aus der gleichen anatolischen Hochebene oder aus dem gleichen Rifgebirge, von wo einst ihre Eltern und Großeltern abgeworben wurden. Sie wohnen fast alle in den großen Städten, wo sie, etwa in Amsterdam und Rotterdam, demnächst die Mehrheit der Bevölkerung stellen werden.
Mehr als die Hälfte der Türken und der Marokkaner hat keine nennenswerte Schulausbildung, jedenfalls keine, die sie wenigstens für die niederen Regionen des Arbeitsmarkts geeignet machen würde. Mehr als ein Viertel von ihnen lebt von Sozialhilfe. Die Enquetekommission kommt zu dem Schluss, dass ihr ökonomischer Beitrag, alles in allem, negativ sei: Sie hätten mehr gekostet, als sie erwirtschaftet haben. Das finden Niederländer niemals erfreulich.
Natürlich: Es gibt auch sehr erfolgreiche Türken und Marokkaner. Ärzte, Autoren, Dozenten, Unternehmer. Aber als Gruppe stellen sie eine Unterklasse dar, die in den großen Städten in immer mehr Wohngebieten Farbe und Ton angibt. Die einheimische Reaktion ließ sehr lange auf sich warten. Es gab zwar nie eine Einwanderungspolitik, aber dafür Integrationspolitik im Überfluss. Da musste Integration doch einfach gelingen?
Sie gelang nicht, und langsam sah dies jeder ein – außer den verantwortlichen Politikern. Die derzeitige Heftigkeit in der niederländischen Minderheitendebatte lässt sich auch so erklären: Sie ist eine Kritik an der politischen Elite, die jahrein, jahraus die Probleme ignoriert und fest an die Segnungen der eigenen Beschlüsse geglaubt hat.
Die niederländische Debatte wird nicht bestimmt durch den ziemlich aussichtslosen, aber nicht sofort sichtbaren sozialen Rückstand der muslimischen Minderheit, sondern durch ihre sichtbar andere Religion. Unter den niederländischen Muslimen ist eine auffallende Rückkehr zum Glauben zu beobachten. Die christlichen Kirchen werden zu modernen Teppichläden umgebaut – und wo die alten Teppichläden standen, da entstehen nun die Moscheen. Stets mehr Männer hüllen sich in den Kaftan; stets mehr Frauen und Mädchen bedecken ihr Haar. Der Gott der Niederlande, bis vor kurzem noch ein strenger Mann mit wenig Gefühl für Poesie, trägt gegenwärtig ein langes Gewand und zitiert gern Suren.
Hinter der leidenschaftlichen Debatte verbirgt sich tiefes Unbehagen: Es stört die wohlige Ruhe, dass in den hoch entwickelten Niederlanden große Gruppen von schlichten Gläubigen leben, die in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind und die nur Geld kosten. Und auf die man nicht wirklich vertrauen kann, falls die Deiche erneut brechen sollten. GERARD VAN WESTERLOO
Übersetzung aus dem Niederländischen: Ulrike Herrmann
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