: Wo der Zug heiß ersehnt wird
Direkt am Baikalsee, am Kilometer 110, wohnt Wassilina Smirnowa seit 64 Jahren. Früher hielt noch zweimal pro Tag ein Zug, der die Dorfbewohner in den nächstgrößeren Ort Sljudjanka brachte. Heute kommt der Zug seltener
von BARBARA OERTEL
Das Ende der Welt hat einen Namen: Kilometer 110. Leicht ist es nicht, das Dorf direkt am Baikalsee im Winter zu erreichen. Nach einem kunstvollen Satz aus dem Zug, der auf freier Strecke hält und die einzige Verbindung zur Außenwelt ist, findet der Besucher ein Dutzend Häuschen.
In einem davon, aus dunkelbraunem Holz, mit blauen Fensterläden und einem Wellblechdach, lebt Wassilina Smirnowa. Begleitet vom lauten Kläffen zweier Hunde schlurft die alte Frau den ausgetretenen Weg entlang durch ihren Garten bis zu einem Holzgatter. Der Schriftsteller Alexander Puschkin hätte sie nicht besser erdichten können: Sie trägt Filzstiefel, einen knielangen geblümten Rock und eine dicke Wattejacke. Den Kopf schützen ein blaues Stofftuch und darüber noch ein Wolltuch vor der Kälte.
„Entschuldigen Sie, aber ich kann nicht mehr so schnell, denn ich bin schon 83 Jahre alt“, sagt sie und entblößt dabei einen komplett zahnfreien Oberkiefer. Dann bittet sie hinein.
Das kleine Reich von Wassilina Smirnowa besteht aus einer Küche und einem kombinierten Wohn- und Schlafzimmer. Dort machen sich in einer Ecke zwei Metallbetten breit, auf denen schwere Decken und Kissen liegen. Die Wände darüber sind mit Teppichen und alten Familienfotos behängt. Hinter der Glastür eines dunkel gebeizten Schrankes klebt eine Urkunde für herausragende schulische Leistungen des Enkels. Ein kleiner Schwarzweißfernseher auf einem wackligen Tisch dürfte schätzungsweise halb so alt sein, wie seine Besitzerin. Im ganzen Raum verteilt liegen kleine Häufchen mit alter Wäsche.
„Hier ist noch nicht aufgeräumt“, sagt Wassilina Smirnowa bestimmt. „Gestern ist eine Freundin von mir gekommen und hat hier übernachtet. Sie wohnt in 106 und ist den ganzen Weg zu Fuß gegangen, weil der Zug nicht gekommen ist. Heute Morgen ist sie weitergegangen, und als ich Ihren Zug kommen hörte, dachte ich: Na hoffentlich hat der sie nicht im Tunnel erwischt.“ Dann bückt sie sich, fasst sich mit der linken Hand in die Seite und verzieht das Gesicht. „Alles tut mir weh, wirklich alles. Aber zum Arzt müsste ich mit dem Zug fahren, und in den komme ich allein nicht hinein. Und hier im Dorf haben wir keinen Arzt.“
Im April 1941 kam Wassilina Smirnowa, die im Poltawagebiet in der Ukraine geboren wurde, nach Sibirien. Geplant war eigentlich nur ein kurzer Besuch, doch der Krieg machte eine Rückkehr unmöglich. So blieb sie – zuerst im Dorf Kilometer 102, wo sie ihren Mann kennen lernte. Gemeinsam mit ihm zog sie 1946 nach Kilometer 110.
Früher hielt noch zweimal pro Tag ein Zug, der die Dorfbewohner in den nächstgrößeren Ort Sljudjanka brachte. Heute, da dieses Stück der Trasse der Transsibirischen Eisenbahn stillgelegt ist, kommt der Zug – wenn er denn kommt – nur noch am Montag, Mittwoch, Samstag und Sonntag. Deshalb leben die Dorfbewohner, die berufstätig oder noch in der Ausbildung sind, die Woche über woanders, und die alten Leute sind unter sich.
Der heiß ersehnte Zug bringt stets das Nötigste mit – das, was der eigene Garten nicht hergibt: Öl, Brot, Milchprodukte, Getränke, aber auch Zeitungen und die Rente. Die beträgt für Wassilina Smirnowa derzeit 1.500 Rubel (umgerechnet 45 Euro). „Alles ist so furchtbar teuer geworden. Für ein Kilo Zucker muss ich 24 Rubel bezahlen. Die Politiker sollten dafür sorgen, dass die Lebensmittel wieder billiger werden“, sagt sie, hält einen Moment inne, und ihr Gesichtsausdruck verklärt sich. Ja, Lenin, der habe ihr sehr gefallen, aber Stalin sei noch besser gewesen. „Auch Kirow war gut, aber der wurde erschossen“, sagt sie. „So ist das heute noch. Diejenigen, die etwas taugen, werden erschossen.“
Gearbeitet hat Wassilina Smirnowa in ihrer neuen Heimat Sibirien bis zu ihrer Rente bei der russischen Bahn. Für die jahrzehntelange Schufterei machte der Staat großzügigerweise im vergangenen Jahr 2.600 Rubel (rund 70 Euro) Prämie zusätzlich zur Rente locker. Davon kaufte die verdiente „Veteranin der Eisenbahn“ ihrem Sohn, ihrem Enkel und sich selbst jeweils ein paar Gummistiefel. Eine Jacke samt Mütze für den Enkel waren noch drin, genauso wie ein Obulus von 100 Rubel für das Studentenwohnheim der Enkelin.
Wassilina Smirnowa ist der Stolz anzumerken, wenn sie davon erzählt. „Für mich brauche ich nichts mehr“, sagt sie und greift nach einer alten Jacke, die über der Rückenlehne des einzigen Stuhls in der Küche hängt. Die hat sie seinerzeit ihrem mittlerweile 50-jährigen Sohn gekauft, als der in die siebte Klasse ging. Seit Jahren trägt sie sie schon. „Sie wärmt wirklich wunderbar“, sagt Wassilina Smirnowa und lacht. Dann angelt sie unter dem Tisch zwischen zwei Blecheimern, die mit Kartoffeln gefüllt sind, eine Plastiktüte hervor, zieht einen halben Laib Brot heraus, und beginnt, dicke Scheiben davon abzuschneiden. „Bitte nehmen Sie“, sagt sie und zieht eine Schüssel, die auf dem Tisch steht, zu sich heran Die ist bis zum Rand mit Rote-Beete-Salat gefüllt. „Ich mache alles selber und koche auch noch jeden Tag“, sagt sie und lüpft wie zum Beweis den Deckel eines Topfes, der auf dem gusseisernen Einsatz eines Herdes aus gekalkten Ziegelsteinen steht. Darin kommt eine dunkle Brühe mit Kartoffeln, ein paar Stückchen Fleisch und Karotten zum Vorschein.
Dann bleibt ihr Blick plötzlich an einem Regal haften, unter dem sie ein Paar nagelneue Filzstiefel hervorzieht. „Die habe ich 1977 gekauft. Ich habe sie nie getragen und hebe sie auf, falls ich mal ins Krankenhaus muss. Und dort will ich dann mit ordentlichen Stiefeln ankommen.“
„Ich bin sowieso bald dort drüben“, sagt sie und sieht dabei aus dem Fenster. Da drüben ist der Friedhof, wo sie vor vier Jahren ihren Mann beerdigt hat. „Schade“, sagt Wassilina Smirnowa, „wenn er noch lebte, könnte er Ihnen so viele Märchen und Mythen über den Baikalsee erzählen. Er liebte ihn, genauso, wie ich es tue. Und woanders leben, das könnte ich nicht.“
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