: „Es geht darum, uns wehzutun“
INTERVIEW HEIDE OESTREICHUND STEFAN REINECKEFOTOS DETLEV SCHILKE
taz: „Wir brauchen eine Parallelgesellschaft.“ Das, Herr Ücüncü, soll Mehmet Sabri Erbakan, Ihr Vorgänger als Milli-Görüs-Vorsitzender, neulich einer türkischen Zeitung gesagt haben. Wollen Sie auch Milli Görüs gegen die deutsche Gesellschaft abschotten?
Oguz Ücüncü: Nein, bestimmt nicht. Aber schon Ihre Frage ist typisch. Dieses Zitat stammt aus der offiziellen „Islamismus“-Broschüre des Bundesinnenministeriums – aber die Übersetzung ist falsch. Mit solchen Unterstellungen haben wir immer wieder zu kämpfen: Wir wollten angeblich eine Parallelgesellschaft oder eine andere politische Ordnung. Das stimmt nicht.
Sie bestreiten, dass es bei Milli Görüs Kräfte gibt, die keine Integration wollen?
Ücüncü: Das bestreite ich nicht. Die erste Generation der Migranten hat sich schwer getan, in Deutschland anzukommen. Das ist ja kein Geheimnis.
Mustafa Yeneroglu: Die zweite Generation ist in Deutschland sozialisiert und will in die Mitte der Gesellschaft. Das Problem ist, dass es Kräfte in der Mehrheitsgesellschaft gibt, die die Integration der Muslime verhindern wollen.
Eberhard Seidel: Mehmet Erbakan wird nicht so blöd sein und sagen: Wir brauchen eine Parallelgesellschaft. Aber Milli Görüs verstärkt die Tendenz dahin. Zum Beispiel machen Sie Angebote zur Entwicklung einer islamischen Identität.
Yeneroglu: Aha. Das wollen Sie uns verbieten?
Seidel: Nein, das ist Ihr gutes Recht. Es kommt darauf an, ob diese Identität zu einer Öffnung oder zu einer Abschottung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft führt. Es gibt eine Reihe von Musterprozessen, die mit Unterstützung gerade von Vertretern der zweiten Generation durchgezogen werden – zum Beispiel um die Befreiung vom koedukativen Sport- oder Schwimmunterricht, von Klassenfahrten oder vom Sexualkundeunterricht. Das sind Angebote, die die Berührungsängste mit der Mehrheitsgesellschaft aktiv unterstützen.
Ücüncü: Sie werden von Milli Görüs nicht hören, dass wir unsere Töchter nicht auf Klassenfahrten fahren lassen. Wir wollen auch, dass unsere Kinder in der Schule – unter Beachtung der Sensibilitäten muslimischer Eltern – vernünftig sexuell aufgeklärt werden.
Seidel: Aber Sie unterstützen Eltern, die das verhindern wollen.
Ücüncü: Nein. Wir unterstützen Eltern, die nicht wollen, dass Töchter am koedukativen Sportunterricht teilnehmen. Ich habe selber eine Tochter, die ich vom Schwimmunterricht habe befreien lassen. Weil ich andere Vorstellungen habe, was die Kleidung meiner Tochter angeht. Wir bitten nur um Rücksichtnahme. Im Übrigen haben Muslime den monoedukativen Sportunterricht nicht erfunden.
Warum werden Mädchen vom Schwimmunterricht befreit – und Jungen nicht?
Ücüncü: Gute Frage. Weiß ich nicht.
Diese Verbote ausschließlich für Mädchen tragen Ihnen den Ruf ein, gegen den Gleichberechtigungsartikel der Verfassung zu sein.
Ücüncü: Aber das steht doch nicht im Koran. Das ist eine Doppelmoral, die aus patriarchalischer Tradition stammt. Ich sehe das genauso kritisch wie Sie. Der Maßstab muss für Jungen und Mädchen gleich sein.
Seidel: Wir reden nicht über Koranauslegungen, sondern über den gelebten Alltag. Wenn eine Berliner Schulklasse ins Landschulheim fährt, kann es passieren, dass ein Drittel der Mädchen nicht mitkommen darf. Denn die Repräsentanten der Milli-Görüs-Gemeinden sagen den Eltern keineswegs, dass sie ihre Kinder ruhig mitfahren lassen sollen – im Gegenteil. Das werfe ich Ihnen vor. Sie tun zu wenig, damit Ihre eigene tolerante Einstellung auch bei Ihren Imamen, den Moscheevorstehern und den Funktionären ihrer Mitgliedsvereine ankommt.
Ücüncü: Nein. Wir reden auf Deutsch genau so wie auf Türkisch. Wir haben keine zwei Agenden. Deshalb werde ich auch teilweise dafür kritisiert, dass ich in der Frage der Töchter so „lasch“ bin. Bei den Imamen haben wir ein großes Problem. Sie kommen durchweg aus der Türkei, haben also keine deutsche Sozialisation. Viele von ihnen haben ein festgefahrenes Weltbild. Aber ich kann auf Seelsorge nicht verzichten. Ich würde gern Imame in Deutschland ausbilden. Aber es gibt keine Fakultäten für islamische Theologie. Das ist unser Problem. Deshalb veröffentlichen wir nun zentrale Freitagspredigten – ganz entgegen unserer Tradition. Das ist alles Neuland für uns. Wir haben doch erst seit etwa zehn Jahren die Perspektive, dass wir uns als Muslime hier im Westen fest niederlassen wollen.
Herr Seidel, sehen Sie bei Milli Görüs einen Generations- und Gesinnungswechsel?
Seidel: Einen Generationswechsel bringen die Jahre zwangsläufig mit sich. Nur: Was bedeutet das? Schon 1988 erklärte man mir: ‚Jetzt kommt die neue Generation, und alles wird anders.‘ Aber bis heute haben die alten Kader wichtige Funktionen inne. Und ob Herr Ücüncü und Herr Yeneroglu – etwa in Fragen organisatorischer und wirtschaftlicher Transparenz – einen Gesinnungswechsel repräsentieren, muss sich erst noch zeigen.
Ücüncü: Ich verstehe Ihre Kritik. Aber verstehen Sie uns auch? Egal was wir machen, wir werden misstrauisch beäugt. Wenn wir eine Kampagne machen, dass Türken deutsche Staatsbürger werden sollen, heißt es: Wir wollten die Deutschen unterwandern. Wenn wir keine machen, heißt es, wir schotten uns ab. Egal was wir tun – wir stehen unter Verdacht.
Seidel: Und dazu hat Milli Görüs selbst kräftig beigetragen. Das fängt damit an, dass Milli Görüs als Auslandsorganisation des türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan gegründet wurde. Erbakan wird hier als Führer von Milli Görüs gefeiert. Außerdem gibt in der Geschichte der Organisation nationalistische und antisemitische Tendenzen, die zum Teil bis heute virulent sind.
Ücüncü: Milli Görüs hat ihren Ursprung in der Türkei. Aber wir haben uns nie als Auslandsorganisation einer Partei empfunden. Wir haben uns als Teil einer Bewegung verstanden, und Necmettin Erbakan ist eine Integrationsfigur. Natürlich hat er in unseren Veranstaltungen Begeisterungsstürme ausgelöst. Das zu bestreiten, ist müßig …
Seidel: Das wäre Selbstverleugnung …
Ücüncü: Genau, und das wäre nicht gesund. Aber es hat sich einiges verändert. Die Türkei war lange sehr wichtig, weil viele, auch ich, dorthin zurück wollten. Das ist jetzt anders. Nun zu Ihrem zweiten Vorwurf, dem Antisemitismus. Solche Äußerungen gehören, wie Sie selbst sagen, der Vergangenheit an.
Seidel: Die Abkehr geschah weniger aus Einsicht, sondern weil Milli Görüs gemerkt hat, dass in Deutschland mit Antisemitismus nichts zu gewinnen ist.
Ücüncü: Nein. Wir haben inzwischen verinnerlicht, dass Antisemitismus tabu ist. Nicht, weil diese Aussagen in Deutschland nicht erwünscht sind, sondern weil wir glauben, dass Antisemitismus nicht zum Selbstverständnis eines Muslims gehört.
Wenn man die Zeitung Milli Gazete liest, drängt sich ein anderer Eindruck auf.
Ücüncü: Es gibt problematische Äußerungen in der Milli Gazete – davon distanzieren wir uns. Da werden Kolumnen aus Istanbul einfach nachgedruckt.
Yeneroglu: Wir wehren uns dagegen, dass die Inhalte von Milli Gazete uns zugerechnet werden, obwohl wir keinen Einfluss darauf haben.
Seidel: Heißt das, Sie haben mit Necmettin Erbakan gebrochen?
Ücüncü: Nein.
Seidel: Würden Sie mit ihm brechen, wenn er sich heute antisemitisch äußern würde? Denn Sie behaupten ja, dass Milli Görüs sich grundlegend verändert hat?
Yeneroglu: Es gibt antisemitische Äußerungen. Und die teilen wir nicht.
Seidel: Die Rede von der „jüdischen Weltverschwörung“ zieht sich wie ein roter Faden durch Erbakans Leben. Im August 2003 zitiert ihn die Nachrichtenagentur Habervakti mit den Worten: „Die arbeiten daran, Groß-Israel zu gründen und die Welt zu beherrschen. Zur Realisierung dieses Aberglaubens plant Israel die gewaltsame Unterdrückung.“ Und in der von ihm verfassten „Gerechten Wirtschaftsordnung“ von 1991 steht: „Der Zionismus ist ein Glaube und eine Ideologie, dessen Zentrum sich bei den Banken der New Yorker Wallstreet befindet. Ferner sind die Zionisten davon überzeugt, dass die anderen Menschen als ihre Sklaven geschaffen wurden.“ Was löst das bei Ihnen aus?
Yeneroglu: Milli Görüs teilt solche Aussagen nicht.
Seidel: Aber trotzdem ist Erbakan für Sie eine Integrationsfigur?
Yeneroglu: Ich habe Professor Erbakan darauf angesprochen und ihm gesagt, dass seine Haltung äußerst missverständlich ist. Und er hat gesagt, dass er kein Antisemit ist. Er begründet religiös, dass er kein Antisemit sein kann, aber ein Antizionist ist. Und ich habe gesagt, dass diese Stereotype oft antisemitisch sind. Aber wir lassen auch nicht zu, dass Professor Erbakan auf diese einzelnen Aussagen reduziert wird.
Seidel: Das sind keine einzelnen Aussagen. Ich kann eine ganze Liste aufstellen.
Yeneroglu: Ich möchte diese Aussagen auch nicht relativieren. Ich habe die gleichen Probleme damit wie Sie.
Seidel: Ich nehme Ihre Bemühungen wirklich ernst. Aber der Fisch stinkt vom Kopfe her. Erbakans Lebenswerk ist von seinem Antisemitismus nicht zu trennen. Und trotzdem können Sie mit so einem Menschen zusammenarbeiten.
Herr Ücüncü, was sagen Sie denn jungen Milli-Görüs-Anhängern, die die gleichen antisemitischen Stereotype im Kopf haben wie Erbakan?
Ücüncü: Wir versuchen, keine Brüche zu provozieren – aber wir sprechen das Problem trotzdem offen an. Wir reden mit unseren Imamen: Was sagt Ihr zum Holocaust? Lasst uns drüber reden.
Und was passiert dann?
Ücüncü: Es gibt Imame, die glauben, dass es den Holocaust nicht in den Ausmaßen gegeben hat. Dann muss man fragen: Warum meint ihr das? Die Antwort lautet oft, dass die so genannte „Holocaust-Industrie“ mit ihrer Moralkeule der deutschen Gesellschaft Unrecht tut. Und dann frage ich: Macht es aus unserer religiösen Sicht einen Unterschied, ob die Zahl der Ermordeten groß oder klein war? Und dann kommt die Einsicht: Nein, es macht aus der Sicht des Koran keinen Unterschied, ob man einen Menschen tötet, einhundert, eine Million oder die ganze Menschheit. So kann ich einen Denkprozess anstoßen. Wenn ich sage, dass bei Auschwitz-Leugnung bis zu sechs Monaten Haft drohen, verbreite ich nur Angst – keine Einsicht.
Das klingt so, als ob Sie bei Milli Görüs die Einzigen sind, die gegen Bücher wie „Die Holocaust-Lüge“ von Harun Yahya argumentieren …
Yeneroglu: Wir haben Harun Yahyas Bücher in den Moscheen verboten, bevor der Verfassungsschutz wusste, wer Yahya ist.
Seidel: Dann müssten Sie auch Schriften von Erbakan und die Milli Gazete aus Ihren Moscheen verbannen.
Ücüncü: Nein, ich kann nicht plötzlich die Milli Gazete verbieten. Ich setzte lieber auf Diskussion. Aber wenn ich der Istanbuler Redaktion sage: „Was ihr schreibt, ist antisemitisch“, dann sagen die: „Ihr habt sie wohl nicht mehr alle. Wir leben mit Juden seit 500 Jahren in Frieden in der Türkei. Wir kennen keinen Antisemitismus. Wir meinen damit natürlich den Nahostkonflikt. Das nennen wir Zionismus.“ Ich bin mit diesen Argumenten nicht einverstanden – aber ich kann die Menschen nicht alle sofort umkrempeln.
Herr Ücüncü, wie weit geht denn Ihre Toleranz gegenüber Ihren Mitgliedern? Die Islambeauftragte der SPD Lale Akgün meint, dass Terror im islamistischen Jugendmilieu als „legitime Verteidigung“ verstanden wird. Was tun Sie, wenn Milli-Görüs-Mitglieder so reden?
Ücüncü: Ich glaube nicht, dass es so etwas bei Milli Görüs gibt. Wir sind gegen Gewalt – eindeutig.
Sehen Sie keine Gefahr, dass manche Jugendliche so denken?
Ücüncü: Es gibt die Gefahr, der verengten Wahrnehmung – nämlich dass es von Tschetschienen über Irak bis Palästina immer gegen uns Muslime geht. Es gibt das Gefühl, Opfer zu sein. Und es ist meine Aufgabe, dem beherzt entgegenzutreten.
Gibt es seit dem 11. 9. ein feindlicheres Klima für Muslime in Deutschland? Empfinden Sie mehr Druck?
Ücüncü: Es gibt eine islamophobe Stimmung. In der Diskussion um die Schläfer etwa. Da ging es um sympathische, adrett angezogene Muslime. Was soll meine deutschen Nachbarin denn denken, wenn ich sie morgens adrett angezogen freundlich grüße? Sorgen machen mir auch Argumente, die in der EU-Türkei-Debatte fielen. Etwa, dass Muslime nicht in die EU passen. Wie soll ich als türkischer Staatsbürger das anders verstehen, denn als Aufforderung zu verschwinden? Das ist Populismus pur.
Seidel: Es stimmt, dass es diffuse Ressentiments gegen den Islam gibt. Aber gerade weil das so ist, muss man präzise sein. Warum schließen wir uns nicht zusammen – Milli Görüs, der Islamrat, der Zentralrat der Muslime und andere – und dokumentieren antiislamischen Vorfälle: Propagandadelikte, wenn Frauen das Kopftuch heruntergerissen wird oder wenn Moscheen angegriffen werden. Wenn diese Dokumentation vorliegt, kann das Problem von der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr geleugnet werden, und wir können gemeinsam dort gegen Islamfeindlichkeit vorgehen. Das würde Transparenz schaffen und auch verhindern, dass islamische Verbände, eine generelle, diffuse Islamfeindlichkeit unterstellen. Damit blocken diese Verbände nämlich jede Kritik an sich ab.
Yeneroglu: Wir pflegen keine Opferrolle. Aber welche Rolle gestehen Sie uns zu, Herr Seidel? Ich lese in einem Ihrer Aufsätze, dass es hierzulande nur zwei Arten von Muslimen gibt: den Kulturmuslim und den Islamisten. Das ist viel zu eng. Den normalen Muslim gibt es bei Ihnen nicht.
Seidel: Doch, als Kulturmuslim, dessen Glaube eine persönliche Angelegenheit und mit keiner politischen Ideologie verbunden ist.
Yeneroglu: Darum geht es doch gar nicht. Mit Kulturmuslim ist in der Öffentlichkeit oft der Muslim gemeint, der sich im Sinne von Selbstaufgabe vollkommen anpasst, der möglicherweise auch Schweinefleisch isst und Alkohol trinkt. Wer religiöse Regeln befolgt, wird schon als gemäßigter Islamist gebrandmarkt. Stellen Sie sich vor, Sie würden so über jüdische Mitbürger schreiben, das wäre ein Skandal.
Seidel: Bleiben wir konkret. Es ist falsch, abstrakt Islamfeindschaft zu behaupten. Im Prozess der Anerkennung des Islam als Religion hat es Versäumnisse der Mehrheitsgesellschaft gegeben. Jetzt wird die Politik der Anerkennung konkret, etwa beim Kopftuch. Das bringt aufgeregte Auseinandersetzungen mit sich – Vorurteile, aber auch andere Positionen. So wird die islamische Friedhofsordnung doch gerade kommunales Recht. Repräsentative Moscheen werden, wie es sich gehört, an würdigen Plätzen den Islam sichtbar machen. Da gibt es Aufregung, auch Vorurteile. Aber das ist ein nötiger Streit.
Ücüncü: In Ordnung. Ich verwechsle Xenophobie nicht mit gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die gehören zur pluralistischen Demokratie – und dazu stehen wir. Das ist kein Lippenbekenntnis. Meine Generation ist in dem Bewusstsein groß geworden, dass Menschenrechte, Gleichberechtigung und Pluralismus selbstverständlich sind. Das haben wir verinnerlicht. Das fordern wir aber auch für Muslime ein.
Herr Ücüncü, im NRW-Verfassungsschutzbericht steht, dass „totalitäre Elemente bei Milli Görüs deutlich zu erkennen“ sind? Können Sie uns erklären, wieso – wenn Sie doch so selbstverständlich zur Verfassung stehen?
Ücüncü: Na ja, selbst der Innenminister von NRW, dem wir besonders ans an Herz gewachsen sind, sagte kürzlich – das muss ich vorlesen – „dass es ernst zu nehmende Stimmen bei Milli Görüs gibt, die sich von der islamistischen Ideologie abkehren wollen“. Unsere internen Diskussionen sind auch beim Verfassungsschutz nicht unbemerkt geblieben.
Herr Seidel, ist es also nicht mehr nötig, dass der Verfassungsschutz Milli Görüs beobachtet?
Seidel: Das war es noch nie. Nicht der Verfassungsschutz, die Gesellschaft und die kritische Öffentlichkeit sollten sich mit Milli Görüs auseinandersetzen. Aber genau das verhindern Sie systematisch. Sie tun alles, um die Öffentlichkeit über Ihre Organisationsstruktur im Unklaren zu lassen – ja, zu täuschen. Es gibt eine Unzahl von Sportvereinen, Jugendklubs, Frauengruppen, die zu Ihnen gehören, und kein Mensch weiß es. Sie sind selbst an Ihrem schlechten Image schuld.
Yeneroglu: Der Verfassungsschutz erklärt uns, die Politik wolle unbedingt die Beobachtung von Milli Görüs, die Politik bezieht sich dann wieder ausschließlich auf diese Berichte. Wir sind also in einem Teufelskreis. Aber wenn Sie verschiedenen Verfassungsschutzberichte lesen, sehen Sie, dass die Vorwürfe abstrakt sind und die Verfasser schon intensiv nachhelfen müssen, um Milli Görüs im Lichte der Verfassungsfeindlichkeit präsentieren zu können. Konkrete justiziable Fakten fehlen. Solange über Milli Görüs nur im Kontext von Sicherheitspolitik und Verfassungsfeindlichkeit debattiert wird und eine sachliche Auseinandersetzung fehlt, ist die Forderung nach der Offenlegung von Strukturen nicht angebracht. Im Moment sind die Inhalte wichtiger.
Seidel: Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Sie haben ein schlechtes Image, weil Sie nicht offen sind. Wenn Sie nichts mehr zu verbergen hätten, wäre es kein Problem, die Vereine zu benennen.
Yeneroglu: Ursache ist nicht unsere mangelnde Offenheit, sondern die Feindbildstimmung gegenüber Milli Görüs. So lange man Milli-Görüs-Mitgliedern die Einbürgerung verweigert und Sympathisanten, die seit zwanzig Jahren am Flughafen arbeiten, ausschließlich aufgrund des Bezugs zu Milli Görüs entlassen werden, die Leute also quasi genötigt werden, ihre Zugehörigkeit zu Milli Görüs zu leugnen, glauben wir nicht, dass mehr Transparenz in den Strukturen zu mehr Sachlichkeit führen wird.
Seidel: Sie werden also nie transparente Strukturen schaffen.
Yeneroglu: Doch, wir arbeiten daran. Das dauert nur noch einige Jahre.
Seidel: Das glaube ich nicht. Auch Sie setzen die Tradition des Verwirrspiels aktiv fort. Da gibt es die Islamische Förderation in Berlin, die enge Verbindungen zu Milli Görüs hat. Der Generalsekretär der Islamischen Föderation überzieht alle, die diese Verbindungen offen legen, mit Prozessen, um sie mundtot zu machen. Offenbar wird er dabei von der Milli-Görüs-Zentrale gedeckt.
Yeneroglu: Herr Seidel, ich verstehe Ihren Vorwurf. Wir sprechen aber mit Wissenschaftlern, die sich ernsthaft mit uns beschäftigen, in aller Offenheit über unsere Strukturen.
Seidel: Die veröffentlichen die Strukturen aber auch nicht, und tun Ihnen damit auch nicht weh.
Yeneroglu: Ach so. Es geht darum, uns wehzutun.
Seidel: Wer tut wem weh? Schauen wir nach Berlin. Seit zweieinhalb Jahren klagt die Islamische Föderation gegen Kritiker – zum Beispiel gegen mich. Hier geht es um den Missbrauch rechtsstaatlicher Mittel mit unhaltbaren eidesstattlichen Versicherungen und Falschaussagen. Um Drohungen, etwa gegen den SPD-Europaabgeordneten Ozan Ceyhun, der zu Ihren Kritikern gehört. Er wurde vor zwei Jahren als Mörder beschimpft, seine Privatadresse wurde veröffentlicht. Ceyhun und seine Familie mussten unter Polizeischutz gestellt werden. Das ist kein Spiel mehr. Ich erwarte, dass Sie sich dazu positionieren.
Ücüncü: Wir werden das tun.
Seidel: Wann?
Ücüncü: In einem überschaubaren Zeitraum.
Seidel: Was heißt überschaubar? In zehn Jahren?
Ücüncü: Nein. In diesem Jahr.
Herr Seidel, ist das eine glaubwürdige Ankündigung?
Seidel: So glaubwürdig wie Mehmet Sabri Erbakans Ankündigung in der taz vor vier Jahren, zu veröffentlichen, welche Organisationen zu Milli Görüs gehören. Passiert ist nichts. Ich glaube Milli Görüs gar nichts. Ich sehe auch keine Bemühung, das Treiben der Islamischen Föderation in Berlin einzuschränken. Denn das ist für Sie doch höchst funktional: Wer sich mit Ihrer Organisation befasst, wird verklagt. Das führt dazu, dass das journalistische Interesse nachlässt.
Ücüncü: Man kann auf dem Tonband Kopfschütteln nicht hören – daher sei gesagt: Ich schüttelte den Kopf. Wir nutzen den Rechtsstaat nicht, um journalistische Freiheiten einzuschränken. Wir wehren uns gegen Diffamierungen – mehr nicht. Wenn in Berlin etwas schief läuft, unternehmen wir etwas dagegen.
Seidel: Das müssen Sie sagen, weil die Berliner Ihnen langsam peinlich sind. Deren Methoden hindern Sie auf Ihrem Weg in die Mitte. Sie reagieren so, weil in der Türkei Erdogans gemäßigte AKP am Ruder und der Radikale Erbakan am Ende ist. Das macht Sie auch nicht glaubwürdiger.
Ücüncü: Nein, dass stimmt nicht. Die Veränderungen in der türkischen Innenpolitik spielen dabei keine Rolle. Und wir haben schon lange vor Erdogans Sieg in der Türkei angefangen, über Muslime im säkularen Rechtsstaat zu streiten. Herr Seidel, wenn wir in drei Jahren wieder hier sitzen und nichts passiert ist, dann können Sie sagen: Okay, es war nur Geschwafel.
Seidel: Ich werde es beobachten.
Ücüncü: Tun Sie das.
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