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Gefangen ist niemand

Geregelter Tagesablauf gegen Kiffen: Die Drogenambulanz des Uni-Klinikums Hamburg-Eppendorf hilft cannabisabhängigen Jugendlichen beim Neuanfang

Die Flucht beginnt morgens um halb sieben. Während das Bewusstsein kurz nach dem Erwachen noch Traum und Wirklichkeit ordnet, ist ein Gedanke bereits klar wie Morgentau: „Wo ist die Bong?“ Drei bis vier Mal an jedem Morgen stopft sich Jan (Name geändert) den Kopf seines Rauch-Kolbens. Erst wenn die Gras-Tabak Mischung verglüht ist und alle Sinne benebelt sind, ist er bereit für den Tag – Frühstück, Haare stylen und zur Schule gehen. „Ich brauche das zur Entspannung und Beruhigung“, sagt Jan. „Dann bin ich fit.“

Heute ist Jan nicht mehr auf der Flucht. Er sitzt in der lichtdurchfluteten Kantine der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Er ist gut gelaunt und hellwach. Nichts erinnert mehr an den zugedröhnten Jugendlichen, der seinen ersten Joint als Zehnjähriger geraucht hat und insgesamt acht Jahre lang kiffte. In seiner vierjährigen Hochphase sollen es bis zu sechs Gramm Marihuana täglich gewesen sein. Seit einer Woche wohnt Jan nun in einem der Doppelzimmer der Drogenambulanz, wo er gerade die zwei- bis dreiwöchige stationäre Entzugsphase absolviert.

„Dauerkiffen kann körperliche Entzugserscheinungen wie Schwitzen, Schlaflosigkeit oder Herzrasen hervorrufen“, sagt Rainer Thomasius, Leiter der Drogenambulanz. Jan verspürte die Symptome bereits, wenn er einen halben Tag nichts rauchte. „Dann wurde ich aggressiv und mir lief kalter Schweiß herunter“, sagt er. Deshalb werden die Patienten hier abgelenkt, so gut es geht: Bewegungstherapie, Soziales Training, Power-Gymnastik oder Freies Gestalten gehören zum Programm, Tischtennis, Kickern oder Videos angucken. Seine Klienten „sehen nach Jahren mal wieder, dass ein Leben ohne Dröhnung möglich ist“, sagt Rainer Thomasius. Mit einem geregelten Tagesablauf ist es aber nicht getan: „Wir müssen ihnen Anti-Depressiva geben, sonst ist die Selbstmordgefahr zu hoch.“ Gefangen sei hier aber niemand, „die Patienten können jederzeit gehen“.

Auf die stationäre Behandlung folgt die etwa zwei Jahre dauernde ambulante Phase mit bis zu zwei Terminen pro Woche. Hier wird zum Beispiel die Diagnostik geklärt: Liegt eine Cannabis-Abhängigkeit vor oder lediglich Missbrauch? „Häufig handelt es sich auch um Beschäftigungs und Arbeitstherapie“, erläutert Udo Küstner, Psychotherapeut in der Drogenambulanz. „Wir bieten dann soziale Unterstützung und helfen ihnen bei Behördengängen oder anderen Zukunftsfragen.“ Der Vorteil gegenüber stationären Entzugsprogrammen sei, „dass die Jugendlichen in ihrem sozialen Umfeld gelassen werden und ihre Ausbildung oder Schule weitermachen können“, erläutert Thomasius.

Das eigentlich Besondere an der Drogenambulanz des UKE, die es seit 1999 gibt und gut 400 Patienten pro Jahr aufnimmt, ist aber, dass hier versucht wird, die Sucht bei Heranwachsenden zu stoppen, so früh es geht – die sogenannte „Frühintervention“. Entzugsprogramme habe es bisher nur für Erwachsene gegeben, sagt Thomasius. Das Angebot der Drogenambulanz richtet sich dagegen ausschließlich an junge Menschen bis 26 Jahre. Nach unten gibt es altersmäßig keine Grenze. „Ein Drittel unserer Patienten ist unter 18“, bestätigt Psychotherapeut Küstner.

Den ersten Schritt machen die Betroffenen dabei selten von allein, die Initiative kommt nahezu immer von den Eltern. Durch gezielte Gespräche versuchen Thomasius und seine Mitarbeiter, die Familien aufzuklären und eventuell verloren gegangenen Zusammenhalt wiederherzustellen, damit Eltern verständnisvoller auf ihre Kinder reagieren können. Erst nach vier bis fünf Sitzungen kommen die Jugendlichen zu den Gesprächen hinzu. „Für uns ist die Arbeit auf der Verhaltensebene wichtig“, sagt Thomasius. „Aufklären können auch Beratungsstellen.“

Das tun sie, allerdings mit mäßigem Erfolg, wie es scheint: Mindestens 16 Prozent der zwölf- bis 18-Jährigen in der Bundesrepublik haben heute Erfahrungen mit dem Kiffen. Die Zahl der 18- bis 24-Jährigen, die Cannabis zumindest ausprobiert haben, liegt im Westen Deutschlands bei 38 Prozent, im Osten sind es 29 Prozent. Vor vier Jahren waren es halb so viele. Fünf Prozent davon gehören, wie Jan, zu den ernsthaft suchtgefährdeten Dauerkiffern. Eine Untersuchung des Suchtpräventionszentrums der Hamburger Schulbehörde ergab, dass 20 Prozent der Schüler in der Hansestadt aktuell Gras oder Hasch rauchen und immerhin zehn Prozent sogar berauscht im Unterricht sitzen. „Dabei ist im bekifften Zustand die Aufmerksamkeits-Funktion ausgesetzt“, so Thomasius. „Der Kiffer-Trend steigt in ganz Europa und der Opiat-Konsum geht überall zurück. Es findet eine Art Umbruch statt.“

Als Besorgnis erregend empfindet er auch, dass der Wirkstoffgehalt von Hasch und Cannabis, also der Anteil an THC (Tetrahydracannabinol), „mindestens um das zwei- bis dreifache“ angestiegen und die Wirkung also viel stärker geworden sei. Schweizer Experten gehen gar vom „sieben- bis 18-fachen Anstieg“ aus. Während der regelmäßige Konsum von Ecstasy erwiesenermaßen das Gedächtnis schädigen kann, sind die Auswirkungen des Kiffens harmloser. Thomasius: „Die Gedächtnisstörungen bilden sich wohl zurück.“ Die Motive, warum Drogen genommen werden, hätten sich längst geändert. „Heute wird nicht mehr aus Protest oder zum Spaß geraucht“, sagt Thomasius, „die Schüler versuchen mit dem Kiffen ihre Probleme und Ängste zu bewältigen.“ Dazu zählt er mangelndes Selbstbewusstsein, die Identitätsentwicklung und Ärger im Elternhaus oder in der Schule. Dabei werde nicht zuletzt die persönliche Entwicklung der Konsumenten „ausgebremst“: „Wir haben hier 19-Jährige auf dem Stand von 15-Jährigen.“

Jan kann sich kaum noch an die Person erinnern, die er vor dem Klinikaufenthalt war. „Früher wusste ich nicht, was ich mit der Zeit anfangen sollte. Ich war sozusagen lebensunfähig.“ Nach dem Entzug will er einen „allerletzten Neuanfang“ wagen. Jetzt, da die Flucht vorbei ist.

Tonio Postel

Infos: www.uke.uni-hamburg.de, Kontakt: drogenambulanz@uke.uni-hamburg.de oder ☎ 040-428 03 42 17

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