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Wenn der Patient zweimal klingelt

Seit dem 1. Juli kassieren Berliner Ärzte über Individualbudgets ab. Kassenärztliche Vereinigung rechnet mit kürzeren Öffnungszeiten der Praxen und längeren Wartezeiten für Patienten. Die Ärzte selbst fürchten Qualitätsverluste

Nicht nur dass dem eh schon leidenden Patienten der Arztbesuch oft durch patzige Arzthelferinnen oder überfüllte Wartezimmer zur Qual wird: Seit dem 1. Juli gilt ein neues Vergütungssystem für Berliner Kassenärzte, das den Patienten künftig noch mehr Geduld abverlangt.

„Die Menschen müssen sich auf kürzere Öffnungszeiten und längere Wartezeiten in der Praxis einstellen“, sagt Manfred Richter-Reichhelm, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV). „Bei Vorsorgemaßnahmen kann es passieren, dass man bis zu einem Vierteljahr warten muss.“

Seit Dienstag rechnen die 7.500 Berliner Mediziner nämlich ihre Leistungen über ein Individualbudget ab. Der Unterschied zur Abrechnungspraxis: Bei der seit 1997 geltenden und jetzt bundesweit abgeschafften Praxisbudgetregelung wurden alle Ärzteleistungen aus einem gemeinsamen Topf bezahlt. Wenn ein Arzt sparsam haushaltete, etwa nur ein EKG schrieb, wenn wirklich nötig, dann schnitt er letztlich schlechter ab als Kollegen, die reichlich Leistungen abrechneten.

Jetzt aber arbeitet jeder Niedergelassene, bis er ein individuell errechnetes Verdienstlimit erreicht, das er nicht überschreiten kann. Wird darüber hinaus therapiert, verdient der Arzt pro Leistung weniger, als wenn er den Patienten unbehandelt wieder nach Hause schickt.

KV-Vorsitzender Richter- Reichhelm hält das System für richtungsweisend: „Mehr als 30 Prozent aller ärztlichen Leistungen sind in den letzten Jahren überhaupt nicht bezahlt worden. Dieser Preisverfall darf so nicht weitergehen. Wir werden künftig für ein limitiertes Gehalt auch nur noch eine begrenzte Leistung erbringen.“ Natürlich dürfe das nicht dazu führen, dass die Ärzte ein paar Wochen in „Budget-Urlaub“ gehen, wenn der Topf bereits vor Quartalsende voll ist. Der KV-Chef schlägt vor, „sich innerhalb eines Bezirks abzusprechen“, und animiert seine Kollegen, „mit Budget und Leistungen im Quartal zu haushalten“.

In der Realität ist das oft nicht umsetzbar: „Wie häufig und wie schwer die Patienten erkranken, können wir mit dem Budget doch gar nicht regulieren“, sagt Kinderärztin Ute Hübschmann-Mehl aus Prenzlauer Berg. Besonders wenn im Winter eine Infektwelle die nächste ablöst, arbeitet die Niedergelassene bis zu 70 Stunden wöchentlich und verdient dennoch weniger als im Sommer. In dieser Zeit kommen fast nur schwer kranke Kinder in ihre Praxis: „Ein akut krankes Kleinkind mit Lungenentzündung darf ich gar nicht wieder nach Hause schicken.“ In diesen Monaten gibt es schlicht keine Patienten, die sie bis zum nächsten Quartal vertrösten könnte. Für völlig unpraktikabel hält Hübschmann-Mehl außerdem den Vorschlag, Präventionsmaßnahmen in weniger ausgelastete Quartale zu verschieben. „Die Vorsorge ist zeitlich gebunden, sodass ich sie nicht einfach ein halbes Jahr später durchführen kann.“

Roswitha Steinbrenner, Sprecherin der Senatsverwaltung für Gesundheit, sieht keinen Anlass zur Beunruhigung: „Die KV ist für die ambulante ärztliche Versorgung zuständig. Wenn sie diesem Versorgungsauftrag weiterhin nachkommt, bleibt alles Weitere abzuwarten.“ Auch eine Qualitätsminderung sei nicht zu befürchten, schließlich gebe es eher zu viele als zu wenige Ärzte in Berlin.

In Nordrhein-Westfalen gibt es das individuellere Vergütungssystem bereits seit 1999 – Budget-Urlaub ist hier ganz normal. „Pro Quartal machen die meisten Praxen hier für durchschnittlich zwei Wochen dicht“, sagt Karin Hamacher von der nordrhein-westfälischen KV. Der Kölner Gynäkologe Jürgen Dahlmann hält vor allem das Aufschieben der Vorsorgeuntersuchungen für problematisch. „Wenn junge Frauen beispielsweise zum Pillen-Check-up kommen, werden sie häufig ins nächste Quartal vertröstet. Um jedoch einen – gerade bei diesen Frauen gar nicht so seltenen – Gebärmutterhalskrebs früh zu erkennen, muss ich sie regelmäßig untersuchen.“

Wie sich die Umstellung in Berlin auswirken wird, zeigt sich Ende September. Dann endet das gerade begonnene Quartal. Laut Hans Georg Fritz, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Internisten, kann das Individualbudget für den einzelnen Arzt rechtliche Probleme mit sich bringen. Richtet er sich nämlich nach den Empfehlungen der KV und weist einen Patienten ab, obwohl dieser nachweislich hätte behandelt werden müssen, kann die Krankenkasse den Entzug seiner Kassenzulassung fordern. Wenn die KV dem nicht nachkommt, droht dem praktizierenden Arzt eine Klage der Krankenkasse vor dem Sozialgericht. „Und wie die entscheiden, das weiß bis jetzt noch niemand“, schließt Fritz. BEATE WAGNER

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