: Wenn das Meer würgt
Touristen freuen sich, wenn sie am Ostseestrand Bernstein finden. Manchmal wird die Freude getrübt
Wenn es gestürmt hat, ist Bescherungszeit. Dann spuckt die Ostsee bei Peenemünde allerlei Gaben an den Strand. Dann sind auch viele gebückt am Strand umhergehende Menschen unterwegs. „Das Sammeln am Strand hat einen besonderen Reiz für viele Touristen“, sagt Axel Falkenberg von der Polizeidirektion Anklam. Groß ist die Freude, wenn es glänzt im Wasser. Endlich einmal Glück gehabt: Endlich das Millionen Jahre alte Relikt einer vergangenen Zeit gefunden, das fossile Baumharz mit Heilwirkung für Körper und Seele, das Gold des Nordens – ein Stück baltischen Bernsteins. Und dann auch noch kartoffelgroß!
„Bernstein findet man bei uns am Strand – aber höchstens in Murmelgröße“, erklärt Axel Falkenberg. „Wer etwas Größeres findet, sollte misstrauisch werden.“ Denn dieser Fund ist höchstwahrscheinlich wesentlich jünger und ungesünder als Bernstein – der ungefähr 60-jährige fiese Doppelgänger des Bernsteins. Es handelt sich dabei um die Chemikalie Phosphor in einem geronnenen wachsartigen Zustand. Sobald sie getrocknet ist und sich auf 20 Grad Celsius erwärmt hat, entzündet sie sich von selbst – in der Hosentasche des unglücklichen Finders. „Der Brand ist schwer zu löschen, je größer der Brocken, desto schlechter.“ Schwere Verätzungen und schlecht heilende Brandwunden sind der Preis des ausgelebten Sammeltriebes.
Die Ostsee kann nichts dafür. Geduldig hat sie alles geschluckt, was in sie hineingestopft wurde. Die Phosphorklumpen stammen aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Ostsee und die Peenemünder haben sie dem Umstand zu verdanken, dass die Nazis auf Usedom an ihren Wunderwaffen bastelten und die Langstrecken-Rakete V 2 entwickelten. Um den Forschungsstandort gründlich in Schutt und Asche zu legen, schickten die Alliierten 506 Kampfflugzeuge mit 1.924 Tonnen Bomben an Bord – viele davon waren Phosphorbrandbomben, und eine große Zahl versank neben Peenemünde in der Ostsee. Die hat die Bomben jahrzehntelang bei sich behalten, jetzt kommen sie ihr hoch. Denn nach sechzig Jahren Ostsee-Endlager rosten auch die härtesten Stahlmäntel. Inzwischen stehen auch Warnschilder an den Strandzugängen, denn ein vom Phosphor verbrannter Urlauber hatte vor Gericht von der Gemeinde ein Schmerzensgeld erstritten. Sie hätte auf die Gefahr hinweisen müssen, entschied das Gericht, da das Aufsammeln von Muscheln und Steinen nun einmal zur üblichen Strandnutzung gehöre. HIN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen