: Methusalems Fußball-Komplott
Die Europameisterschaft in Portugal, der uralte Großonkel und der gemeine Tod
Das Spiel Deutschland gegen Holland bei der EM in Portugal werde ich in Gedenken an meinen Großonkel gucken, wo und mit wem, weiß ich nicht. Ich plane Fußball-guck-Situationen selten weit im Voraus. Nur für die WM 2046 bin ich bereits verabredet, die Guckgemeinschaft habe ich mit einem Freund beschlossen. Die Sache ist uns todernst, buchstäblich. Der permanent nur einstweilige Triumph über den Tod erlebt seine Höhepunkte nämlich vor allem bei den Welt- und Europameisterschaften, die zu erleben das Dasein gleichermaßen ordnet wie in höchstem Maße erstrebenswert macht.
So betrachtet bin ich zehn Weltmeisterschaften und neun Europameisterschaften alt und zurzeit guten Mutes, in Kürze Zehn-und-zehntes zu begehen. Im Jahre 2046 werde ich 21 und 20 sein, der Freund 20 und 19. Ich hoffe sehr, dass wir uns in einer ordentlichen Kneipe, mindestens in menschenwürdigen Rentnerbehausungen treffen werden, auf jeden Fall aber mit vertrinkbarem Geld und Verstand. Die Verabredung gilt selbstverständlich auch für den Fall, dass einer von uns aus weiter Ferne anreisen muss, doch insgeheim bin ich mir sehr sicher, keine weite Strecke zurücklegen zu müssen, allenfalls von meiner Wohnung in die Kneipe, also so wie eh und je. Längst habe ich entschieden, in Eintracht Frankfurt zu bleiben, weil mich der Gedanke, eine Meisterschaft der Eintracht bloß im Internet verfolgen zu können, krank macht.
Ich bin nämlich in Eintracht-Meisterschaften gerechnet noch null, woran mich mein Großonkel selig stets schmerzhaft erinnerte, wenn er vom 59-Finale-Berlin berichtete, vom 5:3 gegen den Erzrivalen Kickers Offenbach, das er im Stadion miterleben durfte. Mein Großonkel starb vor Monaten im Alter von 17 und 11, mithin als maximaler Methusalem. Die EM vor vier Jahren hat er schon im Altenheim gucken müssen, mit Herrn Klotzig als Verbündetem, im Gemeinschaftsraum, wo die Pflegerinnen den Fernseher derart leise stellten, dass mein Großonkel und Herr Klotzig kaum mehr etwas hörten. Die Bridge-Damen sollten nicht gestört werden, und auch sonst, so erzählte es mein Großonkel, behandelten die Pflegerinnen seine Fußballleidenschaft wie nörgelige Eltern die Vorliebe eines Dreijährigen fürs Kartoffelpüreemanschen: mit Zurechtweisungen in selbstgerechter Vernunftsposerei. Mein Großonkel fluchte eben gern lauthals, und Herr Klotzig rief unentwegt und selbst bei Einwürfen: „Schieß doch, du Simpel.“
Seine letzte WM muss für meinen Großonkel dann die reinste Tortur gewesen sein. Er, der keinen Fuß mehr vor den anderen zu setzen vermochte, wurde mit morgendlicher Sitzgymnastik gedemütigt und verpasste deshalb selbst die wenigen Spiele, die ihm mangels Premiere-Decoder geblieben wären. Die Anschaffung eines Decoders hatte die Heimleitung aus Kostengründen abgelehnt.
In sentimentalen Filmen über liebe Großonkel kommt nachts der heldenhafte Großneffe geschlichen, klettert aus Dankbarkeit für die vielen schönen Kindheitsmomente im Fußballstadion an der Fassade des Altenheims hinauf, ins Fenster des Großonkels hinein, trägt ihn ins Auto und rauscht in eine friedliche Welt, wo es Fußball, Zigarren und Wein und Bier und Schinken und Käse und was nicht alles satt gibt. Da ich aber ein gewöhnlicher Großneffe war, habe ich mich zur WM 2002 in Japan und Korea nach Thailand verdrückt, um die Spiele zu ordentlichen Tageszeiten von der Hängematte aus verfolgen zu können.
„War es denn schön?“, hatte der Großonkel nach meiner Rückkehr gleich gespannt gefragt, und so erzählte ich ihm all die Anekdoten, die ich dann bei drei weiteren Besuchen nur noch als Stichwort-Codes erwähnen musste, worauf bei meinem Großonkel der entsprechende Film ablief, wenn er seine Stichwort-Codes ins Gespräch brachte: 58-Halbfinale-Göteborg, 66-Endspiel-Wembley, 74-Regenschlacht-Waldstadion. Was für ein Leben. Wie unbedeutend wirkt meines dagegen: 74-Finale-FKK-Zwangsurlaub, 82-Halbfinale-Kneipe, 90-Finale-Kneipe, 96-Finale-Kneipe. Aber mein Großonkel tat mir stets den Gefallen, ebenso bewundernd zu nicken wie ich bei seinen Stichwort-Codes. Und dann lachten wir und schwiegen und lachten wieder und seufzten: „Ach ja, mal gucken, was die EM uns bringt.“
Vor meinem letzten Besuch war ihm das Lachen vergangen. 17 und 11, dabei würde es bleiben, das spürte mein Großonkel. Im Fernsehen hatte er die Gruppenauslosung gesehen, sich prompt ein grandioses Spiel Deutschland gegen Holland fantasiert, und wie die Experten, Trainer und Journalisten ihre Vorfreude angesichts dieser verheißungsvollen Paarung verkündeten, da wurde er endgültig gewahr, dass sie von einer herrlichen Zukunft sprachen, die nicht mehr die seine war, ja sogar von einer Welt, zu der er nicht mehr gehörte. Ungefähr so hatte er, der sonst keine großen Worte machte, es ausgedrückt. Mir verschlug es glatt die Sprache.
MARK OBERT
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