: Folter und Frühstücksbrötchen
Um mit dem wichtigsten zu beginnen: Demokratische Gesellschaften, die Folterungen wie die von Abu Ghraib verhindern wollten, würden dafür Sorge tragen, dass an jeder Verhörsituation in besetzten Ländern Beobachtungspersonen von Gruppen wie amnesty international oder Human Rights Watch beteiligt wären. Diese müssten nicht mithören, was dort verhandelt wird. Der Blick durch eine Einwegglasscheibe in den Verhörraum würde genügen. Sofortige Meldung an UN-Behörden mit Strafkompetenz bei Übergriffen. Damit hätte man die Folter, soweit sie im Namen von Staaten und Regierungen ausgeübt wird, unter Kontrolle. Warum geschieht das nicht?
Voraussetzung wäre eine wache Bevölkerung. Eine Bevölkerung, die präventiv Überwachung fordert, weil sie weiß, dass Soldaten in jeder Besatzungssituation leicht in die Versuchung, zu foltern, geraten; seien es schwedische Blauhelmsoldaten 1995 in Bosnien oder jetzige Bundeswehrtruppen im Kosovo. Zu erzeugen wäre eine Bevölkerung, die so etwas alltäglich wüsste.
Woher die Bevölkerungen das wissen könnten? Die Antwort findet sich in einer Bemerkung von Andrea Böhm in ihrem Artikel „Wie man den Krieg der Ideen verliert“ in der taz vom 10. Mai zu den amerikanischen Reaktionen auf die Folter in Bagdad: „Die Einzigen, die in den USA angesichts der Fotos aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis weder überrascht sind noch so tun, sind Anwälte, Sozialarbeiter und Geistliche, die von Berufs wegen mit dem amerikanischen Strafvollzug zu tun haben.“ Weil diese Berufsgruppen aus ihrer Alltagsarbeit kennen, was die Medien als Horrorhit der Saison um die Erde wirbeln.
Andrea Böhm: „Gefangene zwecks Disziplinierung stundenlang nackt stehen zu lassen ist im amerikanischen Strafvollzug herrschende Praxis. In manchen Haftanstalten werden neuen Häftlingen Säcke über den Kopf gezogen. […] Ende der Neunzigerjahre war in Texas ein Trainingsvideo für Vollzugsbedienstete in Umlauf, auf dem Häftlinge bei einer Drogenrazzia nackt über den Boden kriechen mussten, von Hunden gebissen und von Wärtern an Füßen zurück in ihre Zellen geschleift wurden.
Ein Bundesrichter stellte den texanischen Strafvollzug mehrere Jahre unter Bundesaufsicht, weil Wärter Gefangene systematisch misshandelten oder duldeten, dass Insassen von Mithäftlingen wiederholt vergewaltigt und als ‚Sexsklaven‘ von Trakt zu Trakt verkauft wurden.“
Ein kleiner Teil der Bevölkerung weiß also Bescheid. Sein Wissen wird aber nicht an die große Glocke gehängt. „Die fünf Verhörtechniken, welche von den britischen Behörden in Lagern für IRA-Gefangene praktiziert wurden, unterscheiden sich von den angeprangerten Irak-Methoden nicht viel: Kapuze über dem Kopf, mit gespreizten Armen und Beinen stehen die Delinquenten 30 Stunden an der Wand, Lärmterror“, ergänzt Heribert Prantl am 21. Mai in der Süddeutschen Zeitung.
Ich bin weder Anwalt noch Sozialarbeiter noch Geistlicher in US-amerikanischen Knästen. Ich bin bloß Kinogänger und habe die amerikanischen Gefängnisfilme nicht ausgelassen. Die Darstellung explizit sexueller Folter vermeiden sie zwar, aber die Quälmethoden, die ausgefuchsten Verfahren, „eine Person zu brechen“, die fiese Lust von Wärtern (und Mithäftlingen) an der Zerstörung jedes eingesperrten menschlichen Potenzials, das sich nicht ohne weiteres den so genannten Gesetzen der Gefängniskloake angepasst zeigt, kenne ich so gut, als wäre ich selbst da drin gewesen: jede Menge Schweine, die Spaß daran haben, einen grinsend zu Tode zu quälen.
Man kann sich dafür interessieren, warum diese Typen so sind, oder sich nicht dafür interessieren. Aber so tun, als hätte man dergleichen noch nie gehört, kann man nicht. Wer vorgibt, einen Generalsbericht, eine Rotkreuz-Expertise, die Videos oder Fotos aus Abu Ghraib zu brauchen, um all dies zu kennen, ist ein Lügner oder ein Trottel.
Ich finde jedes dieser Bilder abstoßend; ich hasse, was auf ihnen zu sehen ist. Aber überrascht hat mich keins von ihnen. So wenig es mich überrascht, dass mit Lane McCotter und Guantánamo-Chef Geoffrey Miller bewährte Quäler mit Aufbau und Reform des irakischen Gefängniswesens beauftragt wurden. Dem Oberkommandierenden General Ricardo Sanchez wird Kenntnis und Teilnahme an Folterungen nachgewiesen. Überraschend?
Aus Archiven und Internet kam bergeweise Stützmaterial: Ein Chicagoer Polizeirevier glänzt mit Schlägen, Elektroschocks, Scheinexekutionen. russischem Roulett, Genitalien an Stromkabeln, Plastiktüten über den Kopf. Der Generalinspekteur des US-Justizministeriums moniert die Zunahme körperlicher Misshandlung und sexuellen Missbrauchs muslimischer Gefangener nach dem 11. September 2001.
Die NY Times druckt das vollständige Protokoll der Aussagen von Private Lynndie England unter der Schlagzeile: „Prison Guard Calls Abuse Routine and Sometimes Amusing“. Es ist bekanntlich amusing, Häftlinge mit „phosphorartiger Flüssigkeit zu übergießen […], an die Wand zu werfen […], mit einem Leuchtstab sexuell zu misshandeln“, und alles gut „mit extrem anschaulichen fotografischen Beweismitteln“ zu belegen. „Normalerweise brechen wir die Häftlinge schon nach wenigen Stunden. […] Wenn du nicht manchmal die Menschenrechte von jemandem verletzt, machst du deinen Job nicht ordentlich“, mailt ein US-Sergeant am 18. Dezember 2003 nach Hause. Die Basis weiß also, was sie tut.
Die arabische Basis und Spitze selbstverständlich auch. „Folter ist fester Bestandteil arabischer Tradition. Sie wird bis heute in arabischen Gefängnissen angewandt“, zitiert Jochen Bittner in der Zeit die Beiruter Tageszeitung al Safir. Wie bekannt, zieht sich von Iran bis Algerien ein einziger Foltergürtel, mit einigen schwächeren Stellen, wie vielleicht Tunesien. Aber als ganz starke Stelle die europanahe Türkei. Das Schwängern der Frauen des Gegners bei kriegerischen Überfällen gehört genauso zum muslimischen Repertoire wie bei vergleichbaren Christen oder Hindus. Kann höchstens sein, dass ein gläubiger Muslim aus Achtung vor der Blöße des Körpers seinem Opfer die Unterhose anlässt, wenn er ihm den Kopf abschneidet.
Es gibt verschiedene Arten, Menschen den gebührenden Respekt zu erweisen. Dass Amerika arabischen Ländern diesen Respekt erweist, indem es Gefangene zum Foltern dorthin überweist, ist inzwischen auch erwiesen. Woher dann dieser Aufschrei: „Wie ist so was nur möglich bei Angehörigen einer zivilisierten Nation!“
Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker wird die Frage: „Wer will das eigentlich wirklich wissen?“ Es gibt doch genug Bücher, die darlegen, wie die „verdrehte Lust“ an der Folter funktioniert; Kate Milletts Buch „Entmenschlicht“ oder „Vorhof der Hölle“ des Romanautors Ted Conovan; von meinen eigenen ganz zu schweigen. Wer sich interessiert für diesen Vorhof der Hölle, muss das alles doch längst kennen: die ausgestellte und fotografierte „Lust“ an der Tötung wehrloser anderer, siehe Wehrmachtsausstellung, siehe die Theatralik der Folter unter der argentinischen Junta oder an den Indios von Guatemala, die Vergewaltigungen der bosnischen Frauen, ausgestellt den Blicken erwartungsvoller Zuschauerpulks. „Die Folter – ein höhnisches Lachen!“, schreibt Kate Millett. Wer weiß das denn noch nicht, gerade in Deutschland. In Spanien! In Griechenland! Alles Wiegen unserer Zivilisation.
Ulrich Raulff hat in der SZ vom 4. Mai unter der Überschrift „Die 120 Tage von Bagdad“ zwei Bilder nebeneinander montiert: ein Bild aus Pier Paolo Pasolinis Film „Salò oder die 120 Tage von Sodom“ und daneben ein Foto aus Abu Ghraib. Es geht um den Inszenierungscharakter der Bilder, eine Strukturgleichheit. Die jungen Menschen, nackt, aus dem Pasolini-Film laufen auf allen vieren und müssen Scheiße aus Näpfen fressen, zum Vergnügen ihrer faschistischen Folterer; sie sind, kunstvoll arrangiert, hinten im Bild noch mal in einem Spiegel zu sehen, einem Art-déco-Stück, in dem sich auch einige Wachsoldaten spiegeln. Das Abu-Ghraib-Foto ist jenes mit den zu einem Haufen getürmten nackten Leibern, hinter denen Lynndie Englands grinsender Kopf schwebt, dahinter, deutlichst posierend, ein amerikanischer Foltermann.
Raulff will auf die tendenzielle Gleichheit der Bilder hinaus: „Die Bilder erkennen einander wie Hunde am Geruch“, schreibt er. Dieser Kommentar zerstört das Zutreffende seiner Montage. Denn entscheidend ist gerade der Unterschied zwischen den Bildern. Pasolinis Filmbild ist konstruiert worden, um Folterer (Schauspieler) bei ihrer sexualisierten Erniedrigungsarbeit zu zeigen (ein Bild darüber, wie Folter funktioniert). Während das Abu-Ghraib-Foto tatsächliche Folterer bei ihrer sexualisierten Erniedrigungsarbeit zeigt; ein inszeniertes „Dokumentarfoto“ von der Erniedrigung eines Menschen, von den Folterern selbst geschossen. Die (eher stümperhafte) Abu-Ghraib-Inszenierung einer tatsächlichen Folter gibt der filmischen Pasolini-Inszenierung also Recht: „So ist es; Sie haben ganz richtig gesehen, Signor Pasolini.“
Es ist nicht Zufall, sondern traurigster Beleg für die Präzision der pasolinischen Folterkonstruktionen, wie in den letzten Wochen ein Bild nach dem andern aus den irakischen Verliesen auftaucht, das sein genauestes, das heißt exakteres theoretisches Pendant in Pasolinis Film hat. Die Nackten an der Hundeleine, das Fressen aus dem Klo, die eigene Herkunft verfluchen, der eigenen Religion abschwören, erzwungene Masturbation mit Todesdrohung, anale Penetration mit einem Gummiknüppel, mit der Leuchtröhre, und immer ein grinsendes Folterergesicht im Bild – all diese Abu-Ghraib-Ingredienzien sind da in den kalten, kristallinen Inszenierungen von Pasolinis Film 1975. Pasolini zeigt Folter; die Fotos aus Abu Ghraib sind Folter. Nix erkennt sich da gegenseitig „wie Hunde am Geruch“.
Pasolini hat die Bilder in seinem De-Sade-Film in Beziehung gesetzt zur Folter der SS und Mussolinis Machtspielen in seinem letzten Regierungssitz am Gardasee: Salò. Dies Wort bildet den Anfang des Filmtitels: Salò oder die 120 Tage von Sodom; im deutschen Verleihtitel des Films hat dies Wort immer gefehlt. Mit Absicht. Denn in ihm liegt die politische Dimension von Pasolinis Zeigegestus. Pasolini will eine Linie der Folter aufzeigen, die vom biblischen Sodom über Dantes „Höllenkreise“ bis zum Feudaladel, dem Klerus und der Justiz des Ancien Régime reicht, wie der Marquis de Sade sie in seinem „120 Tage von Sodom“-Roman beschreibt. Eine Linie, die für Pasolini weitergeht über die europäischen Kolonialismen des 19. Jahrhunderts bis zu den deutschen KZs und darüber hinaus zu den Kolonialpraktiken moderner neokapitalistischer Demokratien – das ist eine Linie universeller Folter, deren Universalismus darin besteht, eine der unaufhörlichen Selbstdarstellungsformen orientalisch-okzidentaler staatlicher Machtgebilde zu sein.
Diese Gebilde haben es geschafft, einen Menschentyp zu erzeugen, der daran gehindert wurde und wird, seine körperlichen Lustvorgänge von Formen zerstörerischer Machtausübung zu trennen. Seine „Lüste“ bestehen in einer Verkehrung sexueller Genüsse in Gewaltvorgänge; in der Unmöglichkeit, Sexualität anders zu erleben denn als Gewalt, durchmischt mit der gleichzeitigen Versicherung, zur „höheren Rasse, höheren Religion“ usw. zu gehören, also im Grunde „Künstler“ zu sein, was sich dann niederschlägt in den speziellen Formen inszenierter ritualisierter sexualisierter Folter alles „Unteren“.
„Untermenschen“ sind per Definitionem dazu da, von den Höheren gefoltert zu werden. Was sie unter Beweis zu stellen haben, ist die prinzipielle Besiegbarkeit des „Feindes“ und die Möglichkeit der Menschwerdung des Folterers. Insofern mögen die Fotos aus Abu Ghraib auch als Schutzamulett für die Folterer dienen.
Aber: Wollte dies jemand wissen, wäre es längst bekannt und würde in der Schule gelehrt. Wie bei uns mit der Realität der Folter, den Folterbildern, den Folterinformationen und den Folterkenntnissen umgegangen wird, legt einen anderen Schluss nahe: dass wir davon nichts wissen wollen. Sogar Susan Sontag in der Süddeutschen: „Menschen tun einander solche Dinge an“, ist ihre Antwort auf die „letzte Frage“ nach dem Warum der Folter.
Von wegen „einander“. Das Vergnügen ist jeweils recht einseitig. Und hat nichts mit den „einschlägig bekannten SM-Magazinen“ zu tun, die jeder zweite Folterautor wie automatisch ins Feld führt. Wo ist denn der masochistische Anteil bei den Folterern? Nirgends. Hi Mom, it’s fun. Das Freudenfest hat einen Gegner, das Folteropfer.
Ich glaube nicht mehr, dass es eine nennenswerte Anzahl von Leuten gibt, die an so genannter Aufklärung über Folterhintergründe interessiert sind. Alle Sorten vernünftiger und nachvollziehbarer Gründe, die man wissenschaftlich zur Folterpraxis in der Welt vorbringen kann, seien sie psychologischer, politischer, militärtaktischer, geheimdienstlicher, pornografiekundiger oder sonst welcher Art, werden von den Fragestellern zwar begierig angehört, angemessen angezweifelt und dann in irgendwelchen Kämmerchen der Person sorgfältig weggesperrt; „verdrängt“ sagte Freud mal dazu; inzwischen wurde der Sinn dieses Wortes selber verdrängt.
Leute (und zwar ganz gleich welcher Herkunft, Klasse, Schicht oder welchen Bildungsgrads) sind absolut zufrieden damit, in regelmäßigen Abständen von der Existenz so genannter sadistischer Schweine, perverser Folterknechte oder einfach menschlichen Abschaums unterrichtet zu werden, die Bilder „entsetzt“ aufzusaugen, um dann ebenso regelmäßig festzustellen, wie unbegreiflich das alles sei. Um ausrufen zu können: „Wie können zivilisierte Menschen so etwas tun!“ Das ist wohl der Sinn der ritualisierten Veranstaltung. Und: „Wenn das nicht bald aufhört, schmeckt mir das Frühstücksbrötchen nicht mehr.“
Es hört dann auch bald auf (in der Zeitung zu stehen), und das Frühstücksbrötchen schmeckt wieder. Oder es schmeckt auch nicht, wegen des Benzinpreises, der Steuer oder einer anderen Regierungstortur. Langsam neige ich zur Ansicht, dass das Weltengebräu an monströser Gräuelscheiße entscheidend mit dazugehört, dass das Geschäft mit den Frühstücksbrötchen weiterläuft.
Die Menschen hier sind Weißmehlkannibalen, sie wollen nicht aufgeklärt sein, sie wollen ein Blatt zwischen sich und der Welt, das sicherstellt, dass die in einem Bagdader oder texanischen oder argentinischen, chilenischen, kambodschanischen, chinesischen oder iranischen Knast abgehauenen Körperteile oder die entblößten Körperhaufen fremdländischer Nacktmenschen in irgendeiner Weise gerade auf ihrem Teller landen. Dafür haben wir schließlich einen Staat, dafür zahlen wir Steuern, dafür füttern wir eine Polizei durch.
Dafür finanzieren wir unsere Lieblingsjournalisten, dass sie uns nur alle fünf Jahre mit den Folterdetails vor die Augen kommen. Christina von Braun fühlte sich in einer Radiodiskussion über Abu Ghraib an archaische Opferrituale erinnert. Mit dem überraschten Aufschrei über die Gequälten reinigt man alle fünf Jahre seine gepeinigte Seele und trägt, anstelle der Beute und der Teilnahme am Opfermahl, die Fotosouvenirs davon.
Ebendeshalb gibt es in der Schule nicht die Unterrichtseinheit „Das Gelächter des Folterers. Alles über das ‚Hi Mom, this is fun‘-Lächeln der Lynndie England“. Und kein Human Rights Watcher sieht durch die Einwegscheibe im Kosovo.
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