piwik no script img

Als das Herz der Stadt stillstand

Heute vor 40 Jahren ereignete sich in Volkhoven im Norden Kölns der erste Amoklauf in einer deutschen Schule. Eine der Überlebenden hat jetzt ein Buch über die grausame Tat, ihre Hintergründe und ihre Folgen verfasst

Es war ein sonniger Vormittag. Turnen auf dem Schulhof stand auf dem Stundenplan von Henriette Rütz. „Ich stand so, dass ich auf das Schultor blicken konnte“, erinnert sich die damalige Viertklässlerin. „Ein Mann, der einen blauen Anzug trug, kam von dort auf uns zu.“ Er habe etwas in der Hand gehabt, was so aussah wie eine Gartenspritze. Dann spritzte er die Kinder an. „Dass es sich um Flammen handelte, habe ich erst später verstanden“, berichtet Henriette Rütz. „Ich habe gar nicht begriffen, was da geschah.“

Unter den Folgen von dem, was an jenem 11. Juni 1964 in der katholischen Grundschule am Volkhovener Weg passiert ist, leidet Henriette Rütz bis heute. Bis auf ihr Gesicht und ihre Unterarme ist ihr Körper von Narben übersäht. „Schwimmen gehen, sonnen, Unternehmungen, die das Leben schön machen, kann ich nicht so richtig mitmachen“, erzählt sie. „Mit meinem veränderten Aussehen habe ich mich bis heute nicht abfinden können.“ Dabei hat sie noch Glück gehabt. Sie hat überlebt.

Nur fünfzehn Minuten dauerte der Albtraum, der acht Kindern und zwei Lehrerinnen das Leben kostete. Kurz nach neun Uhr hatte der psychisch gestörte Frührentner Willi Walter Seifert (42) das Schulgelände betreten. Auf seinem Rücken trug er ein zu einem Flammenwerfer umgebautes Pflanzenspritzgerät. Außerdem in seinem Gepäck: eine selbst gebastelte Lanze und eine Steinschleuder.

Was er damit vorhatte, darüber heißt es im Polizeibericht: „Mit klein brennender Flamme ging Seifert auf die Kinder einer Schulklasse zu, die unter Aufsicht der Lehrerin Langohr im hinteren Teil des Schulhofes Turnen hatten. Dort angekommen, vergrößerte er die Flamme auf circa 6 Meter Länge und richtete den Flammenstrahl auf Kinder und Lehrerin.“ Dann zerstörte Seifert mit seiner Steinschleuder die Fensterscheiben mehrerer Klassenräume und richtet den Flammenstrahl in die Klassen. „Die brennende Flüssigkeit und die Flamme reichten bis auf die gegenüberliegende Wandseite. Die Kleider der Kinder fingen sofort Feuer.“ Anschließend erstach Seifert zwei Lehrerinnen mit der Lanze. 28 Schüler erlitten schwere Verbrennungen, acht starben. Der Amokläufer selbst vergiftete sich mit dem Pflanzenschutzmittel E 605. In der Vernehmung kurz vor seinem Tod gab er „Differenzen mit Ärzten“ als Grund für seine Tat an.

„Das Herz der Stadt stand still“, versuchte Kölns damaliger Oberbürgermeister Theo Burauen bei der Beisetzung der beiden Lehrerinnen das Entsetzen der Kölner in Worte zu fassen. „Das Herz der Stadt stand still“ heißt auch das jetzt erschienene Buch der ehemaligen Volkhoven-Schülerin Barbara Peter über diesen ersten Amoklauf an einer deutschen Schule. Sorgfältig hat Peter, die selbst bei dem Attentat schwer verletzt wurde, die Ereignisse in Polizei- und Feuerwehrakten, in Presseberichten und mit Zeitzeugen recherchiert. Vor allem sprach sie mit den überlebenden Opfern. Entstanden ist ein eindringliches Bild des Verbrechens, seiner Hintergründe und Folgen. Die schrecklichen Erlebnisse hätten sich bei allen in die Seele eingegraben, schreibt Peter: „Alle Kinder, die damals in diese Schule gingen, verloren einen Teil Vertrauen in die Welt.“

Die Schule selbst wurde nach der Tat stillgelegt, vier Jahre später zogen hier fünf Künstler ein: Die Adresse Volkhovener Weg 209-211 beherbergt seitdem eines der ältesten städtischen Atelierhäuser. Gut zehn Jahre später entstand auf dem Schulhof die „Simultanhalle“, ein Probebau für die Fassendenverkleidung des 1986 fertig gestellten Museums Ludwig. Heute ist das ehemalige Provisorium ein begehrter Ausstellungsort. Kölns Oberbürgermeister Fritz Schramma weiht am heute an der ehemaligen katholischen Volksschule in Volkhoven eine Gedenktafel ein, die an das blutige Geschehen erinnert, das dort vor genau 40 Jahren stattfand.

PASCAL Beucker

Barbara Peter: „Das Herz der Stadt stand still“. SH-Verlag 2004, ISBN 3-89498-144-X, 12,80 Euro.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen