piwik no script img

GEW: Sarrazin ist „nicht ganz beieinander“

Helle Empörung bei Gewerkschaft und Bildungspolitikern löst der Finanzsenator mit seiner Rüge der Berliner Kitas aus

Helle Empörung hat ein taz-Interview von Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) zu Bildungspolitik ausgelöst. „Sarrazin hat von der Sache überhaupt keine Ahnung“, klagte gestern Ulrich Thöne, Chef der Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): „Der Finanzsenator schmeißt bei den Zahlen Äpfel und Birnen durcheinander.“ Auf dieser Grundlage entstehe ein schiefes Bild. Es sei unwahr, dass Berlin mehr Geld für Bildung ausgebe als der Rest der Republik. Ein qualifizierter Vergleich ergebe vielmehr, dass Berlin bei den „Bildungsausgaben im engeren Sinne“ unter Hamburg liege. Auch die Ausgaben pro Kitaplatz seien in der Hauptstadt unterdurchschnittlich. Auf Sarrazins Argument, die überhohen Bildungsausgaben Berlins seien nicht mit einem hohen Ausländeranteil zu rechtfertigen, antwortet Thöne: „Die ausländische Bevölkerung in Berlin hat eine ganz andere Sozialstruktur als in westdeutschen Großstädten.“

Thöne macht die Politik des rot-roten Senats für die von Sarrazin angezeigten Missstände mitverantwortlich: „Sarrazin sagt, die Kitas sollen Bildungseinrichtungen werden. Aber genau dafür ist ihnen die Förderung gestrichen worden.“ Er verstehe den Senator nicht: „Wer gestresste Einrichtungen so schlechtredet, muss nicht ganz beieinander sein.“

Gestern hatte Sarrazin in dieser Zeitung erklärt, in Berlin sei die Kinderbetreuung intensiver als anderswo, dennoch seien die sprachlichen Defizite der Kinder enorm hoch. Dies läge unter anderem daran, dass in den Kitas nicht ausreichend vorgelesen werde. „Die Kinder kennen in der Regel nicht einmal Grimms Märchen“. Weiter führte der Finanzsenator aus: „Es ist eine Berliner Lebenslüge, Mehrausgaben mit einer schwierigen Sozialstruktur zu erklären.“ Der Ausländeranteil sei anderswo höher.

Auch die Bildungsverwaltung ist sauer auf Sarrazin. Senator Klaus Böger (SPD) urlaubt zur Zeit auf Sylt. Sein Staatssekretär Thomas Härtel meint: „Sarrazin hat unglücklich formuliert.“ Die Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung sei „bei uns anders als in Westdeutschland“. In München etwa gebe es „homogene türkische oder italienische Milieus“, in Berlin hingegen seien an einer Schule „manchmal Schüler aus 20 Nationen.“ „Statistiken sind das eine, die Bedingungen vor Ort das andere.“

Der grüne Bildungspolitiker Öczan Mutlu erklärte: „Sarrazin hat schon lange keinen Fuß mehr in eine Berliner Kita gesetzt.“ Der Vorwurf, diese seien Verwahranstalten, sei „nicht von dieser Welt“. Damit Kitas den Anspruch, Bildunganstalt zu sein, erfüllen könnten, müssten sie personell und materiell entsprechend ausgestattet werden. Der Senat tue jedoch das Gegenteil.

Der jugendpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Sascha Steuer, nennt Sarrazins Worte „Binsenweisheiten, die ein Senatsmitglied nicht äußern sollte“. Einsparungen im Bildungsbereich seien möglich in der „aufgeblähten Schulverwaltung“.

Die FDP-Bildungsexpertin Mieke Senftleben warnte, Sarrazin bereite mit seinen Äußerungen Kürzungen bei der Bildung vor: „Nachtigall, ick hör dir trapsen …“ Dies dürfe nicht geschehen: „Der Output muss steigen, aber bei diesem Input muss es bleiben.“ Um dem Mangel an Bekanntheit von Grimms Märchen unter den Kindern Berlins abzuhelfen, wird die Politikerin in der ersten Augustwoche selbst eine Woche lang in einer Grundschule in Schöneberg vorlesen.

ROBIN ALEXANDER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen