piwik no script img

tour de sony centerWer ist Peloton?

Marlene statt Armstrong

Um 12.24 Uhr beginnt der Anstieg zum Col de Soudet, immerhin Bergkategorie I. „Fünf Helfer von Lance Armstrong vorn im Feld. Sie sehen es“, glaubt ARD-Kommentator Hagen Bosdorf. Nein, niemand hier sieht es, denn in diesem Augenblick bricht das Bild zusammen. Und während Bosdorf mal wieder einen Preis auslobt, für den, der die Technik erfindet, Steile im Fernsehen sichtbar zu machen, glotzt von der Leinwand „Nosferatu“ ins Sony Center. Niemand wundert sich. Niemand protestiert. Und lachen muss auch keiner. Touristen pausieren auf der langen Bank aus gelochtem Edelstahl, legen neue Filme ein und essen mitgebrachte Stullen. Dann ist es still. Hagen Bosdorf schweigt.

Radsport ist kein Fußball. Das mag eine schlichte Erkenntnis sein, doch wer ins Sony Center gekommen war, das seit gestern die Etappen der Tour de France live auf der Großbildleinwand zeigt, hat mindestens diese Erkenntnis mit nach Hause nehmen können. Spaß gab es noch weniger, Zuschauer praktisch gar keine. Am Samstag waren es vier Millionen – in der ARD. Ins Sony Center verirrten sich gestern nur ein paar dutzend. Radsport ist eben kein Fußball. Bei den WM-Spielen musste das Gebäude wegen Überfüllung geschlossen werden. Tausende hatten Fahnen geschwenkt und gegrölt. Beim Spiel Türkei gegen Brasilien hatte es sogar eine handfeste Keilerei gegeben. Doch bei der Tour? Weder Bianchi-Trikots noch rote Teufel, stattdessen bunte Testbalken.

Dann tritt „Le Charmeur“ (Frankreich, 1906) auf der Leinwand auf. Asiatische Tänzerinnen in Schmetterlingskostümen umflattern stumm einen bärtigen Greis. Auch schön, nur die Radfahrer fehlen. Der Polizist, der plötzlich erscheint und stumm Autos dirigiert, sieht nicht aus wie ein Gendarm. Und Marlene im Glitteranzug, nicht wie der Lance im Maillot Jaune. Die Knef schmollt, Uschi grinst und Lola rennt. Es wird sportlicher. „Wollen Sie noch mehr sehen?“, fragt die Leinwand. „Dann besuchen Sie das Filmmuseum!“ – gleich nebenan im Keller.

Nach einer Viertelstunde Filmhistorie taucht plötzlich der Hintern von Stuart O’Grady auf. Der große australische Sprinter verliert gerade den Anschluss zum Hauptfeld. „Na, endlich“, sagt Norbert Mattler. Einer der wenigen, der nicht zufällig gekommen ist. Er hat zumindest fast alle Etappen gesehen. Er ist Glasbläser und Ullrich-Fan und hat „mit etwas mehr Fluidum gerechnet“, sagt er etwas enttäuscht. Nicht einmal er trägt ein Bianchi-Trikot.

Der Mann vom Internetcafé nestelt eine Gauloises aus der Tasche, setzt sich ein Stück weiter auf die Bank und blickt fragend in die Runde. „Schon wat passiert?“ – „Wat soll schon passieren?“, entgegnet der Nachbar ohne den Blick vom Peloton abzuwenden. Dort das Hauptfeld, das die Ausreißer hetzt, hier die rheinische Damenriege, die Jagd auf den Kellner des „Josty“ macht. Und eine sächsische Herrengruppe, die auf den Bildschirm starrt. „Do is der Ullrisch! – „Aha, und wer is vorn, dieser Pelton?“ Nein, Experten waren auch keine gekommen. JAN ROSENKRANZ

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen