lost in lusitanien: Nur mehr Gleiche unter Gleichen
MATTI LIESKE über die Korrelation zwischen alten Trainern und übervorsichtiger Taktik, von der die EM dominiert wird
Felipe Scolari hat es auf den Punkt gebracht. „Alle sind gleich“, sagte der Trainer der Portugiesen, „jeder kann jeden schlagen.“ Das ist in der Tat der Eindruck, der sich zum Abschluss der EM-Vorrunde aufdrängt. Lediglich Bulgarien verabschiedet sich ohne Punktgewinn von dieser Europameisterschaft, sogar Lettland, von Scolari als bestes Beispiel für seine These herausgegriffen, hatte bis zum letzten Spieltag die Chance, den Sprung ins Viertelfinale zu schaffen. 16 Mannschaften auf einem Niveau also, und ein gutes Dutzend dazu, die kaum schlechter abgeschnitten hätten, wären sie durch die Qualifikation gekommen.
Aber natürlich trügt der Eindruck. Die Teams sind keineswegs gleich, sondern einige haben eine viel größere Zahl an herausragenden Einzelspielern als andere. Dass sich dieses Faktum nicht in überlegen geführten Spielen, Toren und Siegen niederschlägt, liegt vor allem an dem Fußball, der in Portugal gespielt wird. Ein sehr taktischer Fußball, in erster Linie auf Sicherheit angelegt, mit klarem Schwerpunkt auf der Defensive. Das bevorzugte System ist das 4-2-3-1, wobei eine Spitze zugunsten eines weiteren Spielers geopfert wird, der vor der Abwehrkette absichert. Alle Mann hinter den Ball, wenn ihn der Gegner hat, ist oberste Devise, verteidigt wird häufig sehr weit hinten, mit wenig Raum zwischen Abwehrkette und Mittelfeldreihe. Dass die nominell schwächeren Teams wie Lettland, Griechenland, Kroatien oder Deutschland sich dieser Taktik befleißigen und nicht wild nach vorn rennen, ist verständlich. Dem Trend zur Vorsicht folgen jedoch auch die Trainer der stark besetzten Mannschaften. Anstatt die individuelle Qualität ihrer Akteure zu nutzen, den Gegner mutig unter Druck zu setzen, ihm ihre spielerische Überlegenheit aufzuzwingen und dadurch seine Schwächen aufzudecken, machen sie ihn stark, indem sie jedes Risiko meiden. Erst, wenn ihnen die Felle davonschwimmen, stellen sie um und versuchen, das Schlimmste zu verhüten.
Ein Grund für die konservative taktische Struktur dieses Turniers liegt möglicherweise im Alter der Trainer. Während die Kader so jung sind wie selten zuvor, ist die Entwicklung bei den Coaches gegenläufig. Rudi Völler ist bei weitem der jüngste, etliche seiner Kollegen sind bereits über 60, die meisten weit in den Fünfzigern. Das läuft komplett dem Trend im Vereinsfußball zuwider, wo jüngere Trainer wie Mourinho, Deschamps, Camacho oder – warum nicht – Thomas Schaaf zunehmend das Bild bestimmen. Natürlich sind ältere Trainer nicht zwangsläufig risikoscheu, jene bei der EM neigen aber eindeutig zum „Safety First“-Denken. Der Rehhagelismus dominierte bisher über weite Strecken das Turnier.
Das Schöne bei dieser EM ist, dass die Ängstlichkeit der großen Teams ziemlich konsequent bestraft und manch ein Trainer auf diese Weise zu seinem Glück gezwungen wurde, oft auch auf Drängen seiner Spieler. Für einige kam der Tritt in den Allerwertesten allerdings zu spät. Italien etwa zeigte in den ersten 60 Minuten des Spiels gegen Schweden den besten und spektakulärsten Fußball, den diese EM bisher erlebt hat, besser noch als die erste halbe Stunde der Portugiesen gegen Spanien, weil viel torgefährlicher. Doch das Kind war schon in den Brunnen gefallen, außerdem hielt Trainer Giovanni Trapattoni das Wagnis auch gegen Schweden nicht durch und spielte nur 1:1. Italien ist draußen, was nicht nur Jon Dahl Tomasson bedauert. „Ich liebe den italienischen Fußball“, sagte der Däne vom AC Mailand, „ich denke, dass wir und die Italiener die besten Teams unserer Gruppe waren.“ Nur umgesetzt hat es Trapattonis Mannschaft nicht.
Erwischt hat es auch Spanien, das gegen Griechenland zu wenig Mut zeigte und letztlich am 1:1 gegen das Rehhagel-Team und nicht am 0:1 gegen Portugal scheiterte. Frankreich und Portugal konnten sich noch berappeln, Holland zeigte nach der verheerenden Strategie gegen die Deutschen zumindest Besserung im unglücklich verlorenen Tschechien-Match, bei den Engländern übertünchte die Treffsicherheit von Wayne Rooney einige Macken im System.
Am vielversprechendsten lässt sich die taktische „Revolution“ der Portugiesen an. Das vom FC Porto abgekupferte 4-3-3, bei dem der zentrale Spieler der vorderen Reihe (Nuno Gomes) nach vorn geschoben ist, jener der mittleren (Costinha) nach hinten, und dazwischen Deco und Maniche hinter Figo und Ronaldo die Diamantformation vervollständigen, funktioniert immer besser. Heute Abend steht das neue portugiesische Team im Viertelfinale gegen England auf dem Prüfstand. Danach wird Scolari wissen, ob wenigstens seine Mannschaft ein bisschen weniger gleich ist als die anderen.
MATTI LIESKE
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