: „Ich hoffe, dass mir noch Zeit bleibt“
Roland B.
Das Haus III, ein alter Backsteinbau in der Justizvollzugsanstalt Tegel, wird im Knastjargon „Mutterschiff“ genannt. Hier sitzen die Häftlinge mit den längsten Strafen – der „Bodensatz der Gesellschaft“, sagt Roland B. Das Mutterschiff ist seine Heimat. Von Brandstiftung bis Bankraub hat B., 48, in seinem Leben das halbe Strafgesetzbuch durchdekliniert. Der gelernte Schriftsetzer, aufgewachsen in einem Dorf am Bodensee, der Vater Dorfpolizist, sitzt seit einem Vierteljahrhundert mehr oder weniger ununterbrochen hinter Gittern. Ebenso lange ist er heroinabhängig.
INTERVIEW PLUTONIA PLARRE
taz: Herr B., für einen knapp 50-Jährigen sehen Sie recht frisch aus. Hält Knast jung?
Roland B.: Knast konserviert. Aber das ist ein Klischee. Die meisten Häftlinge werden innerlich alt und benehmen sich auch so.
Wie ist das bei Ihnen?
Ich fühle mich absolut jung, aber auch manchmal uralt.
Einen Vorteil hat es ja, ein Vierteljahrhundert mehr oder weniger ununterbrochen hinter Gittern zu sitzen: Man muss sich nicht mit den profanen Dingen des Lebens rumschlagen.
Stimmt. Die Wäsche wird einem gewaschen, der Einkauf geliefert. Man muss nur die gewünschten Artikel in einer Liste ankreuzen. Aber Erziehung zur Selbstständigkeit würde ich das nicht nennen.
Was war für Sie in all den Jahren das Schlimmste?
Keinen Sex zu haben. Keine Berührung, Wärme und Zärtlichkeit zu erfahren. 10, 12, 15 Jahre immer allein aufzuwachen macht krank. Jedem Tier im Zoo erlaubt man, sich zu paaren. Aber im Knast ist jeder mit seinem Körper allein.
An das Eingesperrtsein gewöhnt man sich?
Ich habe mich nie daran gewöhnt. Das Knirschen des Schlüssels im Schloss ist das erste Geräusch, das mir ins Bewusstsein dringt, bevor ich aufwache. Jeden Morgen aufs Neue ist das für mich ein ganz furchtbarer Moment.
Diebstahl, Brandstiftung, Raub, Betrug, Hehlerei, Fahren ohne Führerschein, Beleidigung, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz … – Sie haben fast das halbe Strafgesetzbuch auf dem Kerbholz.
Aber ich habe nie eine Körperverletzung oder ein Sexualdelikt begangen.
Ihre längsten Strafen – siebeneinhalb und zwölf Jahre – haben Sie wegen diverser Banküberfälle bekommen. Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?
Auf die Idee bin ich noch nicht gekommen. Aber man stellt automatisch Vergleiche an. Wenn ich in den Nachrichten höre: Den Haag, Kriegsverbrecherprozess, Vergewaltigung, Brandstiftung, Massenmord – 20 Jahre, dann sage ich mir: Roland, du bist ja noch schlimmer als dieser Typ, weil du mehr Knast hast. Du bist ja ein ganz schlimmer Finger.
Wie alt waren Sie, als ihre kriminelle Karriere begann?
Ich bin in der Nähe vom Bodensee groß geworden. Mein Vater war Dorfpolizist. Als ich elf war, trennten sich meine Eltern auf sehr unschöne Weise. Danach bin ich von zu Hause abgehauen und habe angefangen zu klauen. Mit 16 habe ich in der Nähe des katholischen Nonnenheims, in dem ich zeitweilig untergebracht war, ein landwirtschaftliches Gebäude abgefackelt. Das hat mir meinen ersten Knast eingebracht.
Seit 1986 sitzen Sie, von zwei kurzen Unterbrechungen abgesehen, in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Wie muss man sich Ihre Zelle vorstellen?
Finster.
Inwiefern?
Nicht besonders sauber und aufgeräumt. Aber ich finde mich gut zurecht.
Haben Sie Bilder an den Wänden?
Einen Kalender, ein Poster der Fußball-Nationalmannschaft, gezeichnet für den Eulenspiegel von Dagobert, dem Kaufhauserpresser, dazu ein paar Urkunden von Tischtennisspielen. Ich spiele im Tegeler Tischtennisteam …
… dem einzigen deutschen Knastverein, der am öffentlichen Spielbetrieb teilnimmt – allerdings ausschließlich in Heimspielen. Was bedeutet Sport für Sie?
Sport ist extrem wichtig. Da spürt man seinen Körper wenigstens noch.
Hat man als Knacki noch ein Verhältnis zur Natur?
Man registriert die Jahreszeiten viel aufmerksamer. Von meiner Arbeitsstelle im Knast gucke ich seit 15 Jahren auf den gleichen Baum, eine Blutpflaume. Der Wechsel von den ersten zarten Spitzen im Frühjahr über die Blüte bis zum Abwurf der Blätter im Herbst geht ungemein schnell vonstatten. Ich erlebe das als sehr schmerzlich. Es macht einem die eigene Vergänglichkeit bewusst.
Was ist wichtig für Sie?
Musik. Ich hab auch einen Fernseher auf Zelle. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich immer Musik vorziehen. Für meinen Recorder habe ich zwei Monatslöhne – damals 500 Mark – investiert.
Was hören Sie am liebsten?
Wenn ich schlecht drauf bin aggressive Musik, wenn ich gut drauf bin eher was Weiches. Vorwiegend alte Sachen. Stones, Beatles, Dylan, Bowie auch P. J. Harvey, Nirvana und jede Menge Blues. Bei 50 Cent und Eminem drehe ich meistens voll auf. Musik verkörpert für mich Träume.
An was denken Sie dann?
An bessere Zeiten. An die schlechten erinnert man sich ja nicht so gerne. 1972, als ich meinen ersten Knast in Ludwigshafen abgemacht habe, lief Sonntagsabends immer über den hauseigenen Funk die Hitparade: Neil Young, Heart of Gold. Deep Purple, Fireball. Das war für mich der Höhepunkt der Woche.
Was ist mit Lesen?
Ich habe ein Nachrichtenmagazin abonniert. Das lese ich von den Leserbriefen bis zum Hohlspiegel durch.
Und Bücher?
Auch. Die hole ich mir aus der Anstaltsbücherei. Zurzeit lese ich gerade ein Wirtschaftsbuch, „Das Buch vom Geld“. Früher, als es hier im Haus III noch keine Steckdosen in den Zellen gab, habe ich aber viel mehr gelesen.
Das Haus III, ein alter Backsteinbau in Sternform, wird in Tegel auch „Mutterschiff“ genannt – warum?
Hier befindet sich der Bodensatz der Gesellschaft. Hier werden lange Strafen vollstreckt. Mörder, Kinderschänder, Räuber. Mit einer Haftzeit von drei Jahren und weniger ist man hier nicht aufnahmefähig. Und hier im Haus wird auch noch mal getrennt. Nach Guten und Schlechten.
Wozu gehören Sie?
Zu den Schlechten. Ich habe, wie viele hier, die im Haus III auf dem C- und B-Flügel liegen, ein Drogenproblem. Der A- und der D-Flügel haben donnerstags länger Zellenaufschluss und jeden Tag eine zusätzliche Sommerabendfreistunde. Die gesteht man dem C- und B-Flügel – die Anstalt spricht vom subkulturellen Milieu – nicht zu. Ich kann das sehr schwer akzeptieren.
Warum?
Man sollte sich die Definition der Weltgesundheitsorgansiation zu Eigen machen, die sagt: Drogensucht ist eine Krankheit.
Sie sind seit 25 Jahren heroinabhängig.
Nicht akut, aber latent.
Früher haben Sie Heroin gesnifft. Mit dem Spritzen haben Sie erst in Tegel begonnen. Was für eine Rolle spielt die Droge in Ihrem Alltag?
Jeder Tag kommt einem vor wie der Tag zuvor. Jeden Morgen suche ich nach etwas Positivem. Was passiert heute? Gibt es gutes Essen? Kommt was Gutes im Fernsehen? Gibt es ein Fußballspiel? Habe ich Training? Habe ich auf Arbeit Aufträge? Je weniger ich finden kann, um so eher bin ich geneigt, mir etwas Künstliches zu suchen: Ab und zu mal ein bisschen kiffen, ab und zu auch mal ein bisschen was anderes nehmen. Nüchtern deprimiert mich das Elend hier viel mehr.
Das heißt, Sie nehmen häufig Drogen?
Früher war ich da viel aktiver hinterher. Heute sehe ich das fatalistischer: Wenn welche da sind, sind welche da. Wenn nicht, dann eben nicht.
Sie sind von Beruf Schriftsetzer und in der Anstaltssetzerei tätig. Im Knast so eine anspruchsvolle Arbeit zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit.
Seit 1986 habe ich in der Anstaltssetzerei die ganze Entwicklung vom Blei- zum Fotosatz mitgemacht. Ich weiß das zu schätzen. Ich habe hier auch mal Kugelschreiber zusammengesteckt.
Tegel ist ein Vielvölkerknast. Wie kommen Sie mit den anderen Ethnien klar?
Man gewöhnt sich aneinander. Man lernt ja auch ne Menge. Wie die Araber ihren Reis zubereiten, die Türken ihr Sücuk, die Vietnamesen ihr Schweinefleisch. Die Ausländer sind mir allemal lieber als die Rechten, mit denen ich mal in der JVA Brandenburg eine Gemeinschaftszelle hatte. Da wurde den ganzen Tag volle Pulle Landser gehört, und niemand ist eingeschritten. Sowas wäre in Tegel undenkbar.
Haben Sie unter den Insassen Freunde?
Es gibt keine Freundschaften im Knast. Das sind auf Zeit angelegte Zweckbündnisse. Die Straftaten der anderen interessieren mich nicht. Was zählt ist, ob sie gut Tischtennis, Schach oder Backgammon spielen. Ich werde immer jemanden bevorzugen, der mich besiegt. Nur das bringt mich weiter.
Wie ist es um die Solidarität untereinander bestellt?
Null. Jeder ist nur auf sein eigenes Fortkommen bedacht.
War das mal anders?
Ja. In dem heißen Sommer 1989 haben wir uns in einem Streik Kühlfächer erkämpft. 1994 war noch ein Streik. Ich war damals Insassenvertreter und habe immer dafür gestanden: wenn Verbesserungen, dann für alle. Letztes Jahr wollte ich wieder für die Gefangenenvertretung kandidieren. Ich hatte mich schon in die Liste eingeschrieben, da erklärte mir ein Sozialarbeiter, ich sei ungeeignet, weil ich ein Drogenproblem hätte. Ich bin deshalb von der Wahl ausgeschlossen worden. Das ist das absolute Unding. Ich möchte nicht wissen, wie viele Drogisten im Bundestag sitzen.
Sehen Sie die Beamten eher als Menschen oder als Schließer?
Die machen ihren Job. Manche kenne ich seit bald 20 Jahren. Die werden hier drinnen zusammen mit einem alt. Es gibt Gute und Schlechte, wie bei den Knackies. Die Älteren sind relaxter.
Die Uhr läuft. Haben Sie manchmal Panik, dass nicht mehr viel kommt?
26 Jahre Knast sind eine katastrophale Lebensbilanz. Aber ich hoffe, dass ich Glück habe und mir noch genügend Zeit bleibt. Allerdings denke ich öfter über den Tod nach. Und wo er stattfindet.
Was kommt dabei heraus?
Dass Tegel kein guter Ort ist zum Sterben. Ich werde alles dran setzen (klopft auf den Tisch), nicht hier.
Was erwarten Sie noch vom Leben?
Wenn ich 2007 rauskomme, will ich versuchen, kein neues Aktenzeichen zu produzieren. Erneut mit einer relativ schweren Straftat vor Gericht zu stehen, würde Sicherungsverwahrung bedeuten. Aber ohne Substitution ist eine Zukunft ohne Straftaten für mich erheblich schwerer. Hier im Knast gibt es eine Methadonstation. Dort will ich mich 2005 noch mal bewerben. In diesem Jahr ist mein Antrag auf dem Dienstweg verschlampt worden.
Eine Familie gründen gehört nicht zu Ihren Träumen?
Nachgedacht habe ich darüber schon. Anthony Quinn hat sein letztes Kind auch mit 80 gezeugt. Aber Kinder sind eine große Verantwortung. Hier gibt es viele, die eine Familie haben. Die fragen sich ständig: Was macht die Frau? Wie ergeht es den Kinder, weil der Vater sitzt? Das ist ein zusätzlicher Stress.
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