: Museum für Passkontrolle
Der Grenzübergang Marienborn war für viele Westdeutsche mit Angst und nervtötender Warterei verbunden. Heute erinnert der Ort als Gedenkstätte an die früheren Verhältnisse. Ein Ortstermin
von CHRISTINE BERGER
Es war ein Alptraum. „Machense mal den Kofferraum uff“, schreit der Grenzposten. Schnell den Deckel hochgeklappt. Emsiges Gewühle. Dann die schreckliche Entdeckung: Unter der Teppichabdeckung liegt nicht wie sonst üblich das Reserverad, sondern ein Berg aus mindestens 1.000 Weinkorken. Was ich damit wolle, fragt der Grenzer misstrauisch. Keine Ahnung, das Auto sei nur geliehen, stammle ich und muss zusehen, wie der restliche VW-Käfer auseinander genommen wird. Als sich schließlich zwei Grenzer die Weinkorken vornehmen und jeden einzeln durchpiksen, wird klar, dass der Halt an der Grenze länger dauern wird.
Und jetzt? 15 Jahre nach dem gruseligen Grenzmartyrium fegt ein heißer Wind über das riesige Abfertigungsgelände am ehemaligen Grenzübergang Marienborn. Die Leere ist beklemmend, trotz unmittelbarer Nähe zur Autobahn Hannover–Berlin. Dort braust der Verkehr sechspurig vorbei, und nur der Hinweis „Gedenkstätte“ an der Ausfahrt Marienborn weist noch auf die Existenz dieses ehemaligen Transitraumes hin. 1945 als Grenzkontrollpunkt von den Alllierten eingerichtet, übernahm 1950 die DDR das Kommando. Die 1972–1974 eingerichtete Grenzübergangsstelle Marienborn war mit über 1.000 Beschäftigten die bedeutendste Grenzübergangstelle an der innerdeutschen Grenze. Autos und Lastwagen stauten sich kilometerweit, wie sie es heute allenfalls noch an der deutsch-polnischen Grenze tun.
Nun ist es so gespenstisch still, dass das Rascheln eines Blattes zusammenzucken lässt. Es hört sich an wie die Kette eines Hundehalsbandes. Hunde, das waren die besten Helfer der Grenzer im Kampf gegen so genannte Republikflüchtlinge.
Doch die Ödnis hat auch ihr Gutes. Sie lässt Raum für Erinnerungen, und auf dem Fußmarsch durch die Abfertigungsanlage, vorbei an der Kontrollbox für verdächtige Pkws hin zum ehemaligen Stabsgebäude der Passkontrolleinheit, in dem sich heute ein Dokumentationszentrum befindet, kommen wehmütige Gedanken auf. Die Aufregung vor der Passkontrolle (wohin mit dem Gras?), die Partys auf dem Stau-Parkplatz mit Ghettobluster und Gitarrengeschramme, das Zusammenstellen der Einkaufsliste für den Intershop, all das bekommt im Nachhinein einen romantisch verklärenden Anstrich. Für Westler war der Grenzübergang auch immer ein Stück Abenteuer.
Und im Osten? „Was soll ich damit verbinden, wir durften doch sowieso nicht raus“, antwortet der Mann vom Wachschutz ungehalten, der im Dokumentationszentrum Dienst schiebt. Er musste für seinen Job die Geschichte des Ortes auswendig lernen, um Besucherfragen beantworten zu können. Das war’s. Kein Wunder also, dass viele der Besucher, die sich auf dem Transitgelände Marienborn verlieren, zumindest an diesem Tag aus dem Westen stammen. „Ein saumäßiges Gefühl war das“, erinnert sich Axel Bruckmeier aus Siegburg, der zusammen mit seiner Frau Edda in der Nähe Urlaub macht. „Wie wir jedesmal gezittert haben, das kann man nicht vermitteln.“ Er vermisst in der Weitläufigkeit des Geländes denn auch museumsdidaktische Elemente, die auch Menschen ohne persönlichen Bezug die damalige Situation näher bringen.
Diesem Anspruch wird zumindest die Ausstellung im Dokumentationszentrum gerecht. Zeitzeugenberichte, Vitrinen mit Grenzüberwachungsgegenständen, Videomaterial und Audiostationen versuchen die Geschichte des Transits wieder aufleben zu lassen. Zum Beispiel die roten Passannehmermappen. Wie oft verschwand der eigene Ausweis in diesen ledernen Kladden, die einem jetzt plötzlich unter Glas als Ausstellungsrequisite wiederbegegnen. Und auch jener Spiegel, der unter das Auto gehalten wurde, um Auffälligkeiten zu registrieren, ist zum Museumsstück gereift.
Dr. Annemarie Reffert war 1989 die Erste, die die Grenze in Marienborn gen Westen passierte. Und das spielte sich folgendermaßen ab:
Beim Zoll: „Wieso ist denn Ihr Kofferraum leer? Ich denke, Sie wollen ausreisen?“. Antwort: „Nee, ich will bloß gucken, ob die Grenze offen ist“. Zoll: „Wieso? Ach, is mir doch egal.“
Egal war plötzlich noch viel mehr, und innerhalb eines Jahres wurden Zäune zerschnitten, Wachtürme umgelegt und gedrillte Schäferhunde verkauft. Das Land war wieder eins, Schwamm drüber.
In Marienborn galt das nicht. Im Oktober 1990 wurde der Grenzübergang unter Denkmalschutz gestellt. Zwei Jahre später beschloss das Land Sachsen-Anhalt den Aufbau der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, die am 13. August 1996 eröffnet wurde. Seither sind 660.000 Besucher im Dokumentationszentrum gezählt worden.
Im Rahmen des Projekts „Grenzenlos“, das auch als Expo-2000-Projekt gefördert wurde, finden regelmäßig Seminare und Kongresse in Marienborn und in Helmstedt statt, wo sich das Zonengrenzmuseum befindet. Dabei ist nicht nur das Trennende zweier Systeme Thema, sondern auch die Entwicklung des Zueinanderfindens in der Grenzregion.
Unerbittlich knallt die Sonne auf den heißen Asphalt. Die neue Raststätte hinter dem Transitgelände kommt einem vor wie eine Fata Morgana in der Wüste. Dort kühle Getränke und „Tom & Jerry“- Menü für die Kinder, hier der Staub der Geschichte mit Plattenbauten und Gras, das aus allen Ritzen wächst. Während der Blick über die Menschenleere wandert, kommt die Leichenliste am Schluss der Ausstellung in den Sinn. Dort sind alle Todesopfer an der innerdeutschen Grenze aufgelistet. Lutz, Renate, Ines, Ulf und Manuela Balzer etwa starben am 10. 9. 1979 beim Fluchtversuch über die Ostsee. Waren es die Grenzer, oder kippte das Schlauchboot um? Tragisch auch der Fall von Peter Hecht, der beim „Rübermachen“ Weihnachten 1962 in der Elbe ertrank. Marko Noak war am 6. Juli 1989 der letzte Tote unter den DDR-Flüchtlingen.
Die Sache mit den Weinkorken hat sich übrigens aufgeklärt. Stunden später, nach dem Verhör durch die Grenzposten und dem entscheidenden Durchwinken Richtung West-Berlin, verriet die Besitzerin des Autos, dass sie die Korken gesammelt hatte, um einen Vorhang daraus zu basteln.
Gedenkstätte Marienborn, A2 aus Richtung Berlin, Abfahrt Alleringsleben, aus Richtung Hannover, Ausfahrt Raststätte Marienborn, geöffnet Di.–So. 10–17 Uhr, Führungen nach vorheriger Anmeldung, Tel. (03 94 06) 9 20 90, Info: Wege zum Nachbarn e. V. Tel. (0 53 51) 1 71 78, www.grenzdenkmaeler.de
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