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Inventarisierung des Faktischen

Schreiben ins Ungewisse: Mit dem „Westöstlichen Diwan“, einem deutsch-arabischen Stadtschreiber-Projekt, möchte das Goethe-Institut die wechselseitige Kenntnis der Literaturen in Deutschland und dem Nahen Osten verbessern. Eine Inspektion

von ALFRED HACKENSBERGER

Die Buchhandlung „El Bourj“ liegt im Stadtzentrum von Beirut, das mit seinen zahlreichen teuren, schicken Restaurants, Cafés und Clubs das moderne Vorzeigekind des libanesischen Wiederaufbaus ist. Gleich um die Ecke findet sich der „Platz der Märtyrer“, der vor dem Bürgerkrieg das „Herz der Stadt“ war, heute aber ein trostloses, verlassenes Gelände ist, das auf die Ankunft der Bagger wartet.

Rund 40 Besucher, darunter vor allem Journalisten, Schriftsteller und Akademiker, sind an diesem warmen Dienstagabend zu „El Bourj“ gekommen, um die junge deutsche Lyrikerin Silke Scheuermann zu sehen. Die Lesung ist ein Bestandteil ihrer Tätigkeit als „Stadtschreiberin“ in Beirut. Einen Monat schreibt sie ein Tagebuch über ihren Aufenthalt im Libanon, das täglich im Internet veröffentlicht wird und Sätze enthält wie diese: „Jemand weckt mich, indem er mich am Arm zieht. Der Mann am Fensterplatz, ein junger Araber, will raus. Ich habe die Landung gar nicht mitbekommen. Es ist komisch, um vier Uhr morgens in Beirut anzukommen.“

Das Publikum ist begeistert von den Gedichten Scheuermanns, die auch auf Arabisch vorgetragen werden. Bei der anschließenden Diskussion geht es um das gespannte „Ost-West-Verhältnis“ und den Dialog der Kulturen. Die 31-jährige deutsche Autorin, die „nicht an den Unterschied der Kulturen“ glaubt, fühlt sich von den teilweise kritischen Fragen etwas angegriffen. Der Moderator der Lesung, Professor Assad Khairalla, erklärt ihr, die Fragen seien nicht persönlich gemeint: „Normale Diskussionskultur.“ Trotzdem hat Scheuermann zum interkulturellen Dialog wenig zu sagen. Als der libanesische Schriftsteller Abbas Beydoun wissen will, was ihrer Meinung nach besser sei für ein gegenseitiges Verständnis, entweder die Vorteile oder die Nachteile der verschiedenen Kulturen herauszuarbeiten, muss Khairalla einmal mehr für Scheuermann einspringen.

Das Projekt Stadtschreiber ist nur eines der vielen Dialogprogramme, die das Goethe-Institut in der arabischen Welt durchführt. Bis vor kurzem waren auch die Schriftsteller José Oliver in Kairo und Ulla Lenze in Damaskus Stadtschreiber, und der deutsche House-DJ Hans Nieswandt tourte durch Palästina, Ägypten und im Libanon und gab Konzerte und Workshops. Über drei Jahre ist zunächst der „Westöstliche Diwan“ angelegt, ein Projekt, das laut Goethe-Institut versucht, „die wechselseitige Kenntnis der Literaturen in Deutschland und dem Nahen Osten zu verbessern“, auch im Hinblick auf den arabischen Schwerpunkt bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Jeweils zwei Schriftsteller „begegnen sich“, erst in der arabischen Welt, danach in Deutschland. Sechs dieser Besuchspaare gibt es.

Gerade nach dem 11. September ist „Dialog“ besonders angesagt. Deutschlands Image ist durch die Nichtbeteiligung am Irakkrieg oder auch die Vermittlung des Gefangenenaustauschs zwischen Israel und der Hisbollah sehr positiv in arabischen Ländern. „Die Politiker haben erkannt“, sagt Rolf Stehle, der Direktor des Goethe-Instituts in Beirut, „dass der kulturelle Dialog auch der Gewaltprävention dient.“ Beim Stadtschreiber-Projekt gehe es, so Stehle, um den „subjektiven Zugang zu einer anderen Kultur, um spontane Wahrnehmung“.

Nun ist es literarisch nicht gerade berauschend, was José Oliver in Ägypten und Ulla Lenze in Syrien in ihren Tagebüchern festhielten. Es würde leicht fallen, dies und jenes zu bemängeln oder gleich ganz zu verdammen. Aber gerade eine strenge Literaturkritik geht an der Programmatik des Stadtschreiber-Projekts vorbei. Man mag über die Lyrik Jose Olivers geteilter Meinung sein – in seinen Tagebuchtexten tut er genau das, wofür er nach Kairo geschickt wurde: Er ist neugierig, will entdecken und setzt sich mit der ihm fremden Welt auseinander. Er schreibt über „den kleinen Alltag“ in „seinem Cairo“, darüber, wie „stolz“ er ist, einem Taxifahrer „5 ägyptische Pfund abgerungen zu haben“, oder wie er die „räudigen Gehwege und Seitenstraßen“ abklappert. Vertrautheiten, die ihn „von Tag zu Tag ein wenig mehr ankommen lassen“. Wie sehr Oliver sein Aufenthalt in Ägypten beeindruckt, verdeutlicht seine Aussage, ihn habe „dieser Monat komplett verändert“ und er werde „nie wieder so schreiben wie zuvor“.

Bei Ulla Lenze klingt es weniger pathetisch. Sie beschreibt ihr Leben in Damaskus als Alltag einer Unwissenden, die „aus einem Land der Barbaren, der Unkultiviertheit zu kommen“ scheint. Fast wie ein Kind eignet sie sich neue, fremde Realitäten an. „Durch Beobachtung und Aufklärung“ lernt Lenze, im Verkehrschaos von Damaskus über die Straße zu gehen. Mit einer erfrischenden Offenheit stellt sie sich dem poetischen Risiko, dem „Schreiben ins Ungewisse“, das alle Stadtschreiber eingegangen sind. Letztendlich präsentieren sie sich wie auf einem goldenen Tablett in einer Umgebung, der man zuerst „mit Angst und Vorurteilen“, so Lenze, gegenübertrete. Für Menschen allerdings, die seit längerer Zeit in arabischen Ländern leben, liest sich die „Inventarisierung des Faktischen“ (Ulla Lenze) in den Tagebüchern oftmals platitüdenhaft.

Silke Scheuermann etwa schreibt, wie sehr sie die Umweltverschmutzung und die vielen Autos in Beirut überrascht haben. Khairalla, der Professor für amerikanische und komparatistische Literatur ist, nennt dies, fast großväterlich, „rührend“ und übt sich in Nachsicht: „Man kann in ein paar Wochen keine Analyse einer anderen Kultur erwarten, Ergebnisse werden da erst sehr viel später kommen.“ Für ihn sind die Stadtschreiber „zwar ein kleiner, aber sehr positiver Schritt zu einem tieferen Dialog“.

So nachsichtig wie der Professor sind nicht alle. Eine Deutschlibanesin ist erzürnt über das Tagebuch von Scheuermann. „Man erfährt nahezu nichts über Beirut und den Libanon. Obendrein macht sie auch noch Fehler.“ Die Erwartungen sind auf beiden Seiten des Dialogs sehr hoch. Im Vergleich zu Lenze und Oliver findet sich aber gerade bei Scheuermann keine größere Neugierde, keine Entdeckungslust, geschweige denn eine Auseinandersetzung. „In Tripoli ist das Flair anders“, schreibt sie, ohne das zu präzisieren. Oder: „Die Drusen sind die Minderheit der Minderheit.“ Allerdings stehen die Drusen in der Liste der 17 Religionsgemeinschaften im Libanon nicht an letzter Stelle. „Im Prinzip müsste es so sein“, sagt Scheuermann zu Recht, „dass ich als Schriftstellerin alles schreiben kann. Dass ich nur Farben aufschreibe, den Geruch des Libanons analysiere oder etwas anderes Verrücktes. Man ist hier nicht eine Funktionärin des Dialogs.“

Es wäre sicherlich interessant gewesen, hätte sie über Farben oder Gerüche geschrieben. Stattdessen betrieb sie bereits zwei Tage nach ihrer Ankunft eine politische Analyse. Scheuermann dachte öffentlich nach über den direkten Auslöser der blutigen Unruhen im Mai in Beirut, bei denen fünf Menschen starben. Später schrieb sie über die Besitzverhältnisse des libanesischen Premierministers Rafik Hariri. Das Goethe-Institut hat einige Namen und Sätze dieser Texte gestrichen oder verändert, da „diese als Fakten präsentiert wurden, sie aber in Wirklichkeit nur auf Hörensagen und Erzählungen basierten“, so Rolf Stehle. Im Libanon gibt es ein Gesetz, das Präsidenten und Premierminister vor Beleidigungen, Verleumdungen schützt und je nach Gutdünken ausgelegt werden kann. Scheuermann nennt die Änderungen „meine ersten Erfahrungen mit Zensur“. Was sie nicht weiß: In der arabischen Welt können Wörter andere Folgen haben als im Westen.

Jose Oliver, Ulla Lenze und Silke Scheuermann sind nur die erste Staffel des Stadtschreiber-Projekts. Im September folgen Steffen Kopetzky in Rabat, Michael Lentz in Amman und Norman Ohler in Ramallah. Im Gegenzug berichten dann Akram Musallam, Najma Barakat, Osama Esber, Ibrahim Farghali, Mohammad al-Amiri und Latifa Baqa aus Hamburg, München, Stuttgart, Frankfurt und Berlin. Die arabischen Autoren aber werden keine Probleme dabei haben, die Straßen Deutschlands zu überqueren, auch die Umweltverschmutzung oder die vielen Autos dürften keine Überraschung für sie sein. Denn sie alle kennen die westliche Kultur beinahe so gut wie ihre eigene, sie alle sprechen in der Regel neben ihrer Muttersprache auch Englisch und Französisch, manche gar noch Deutsch, Spanisch oder Italienisch. Selbst wenn sie keine Grenzgänger wie die libanesische Autorin Najma Barakat sind, die in Frankreich und im Libanon zu Hause ist. Den „blinden Fleck“, als den Silke Scheuermann den Libanon beschreibt, den wird es für sie nicht geben.

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