Mehr Zeit für mehr Arbeit: London: Immer weniger Freizeit
VON RALF SOTSCHECK
Niemand, mit Ausnahme von Terroristen vielleicht, kann die Londoner City so gründlich lahm legen wie die U-Bahn-Angestellten. Ihr 24-stündiger Streik, der am Dienstagabend begann, stürzte die britische Hauptstadt ins Chaos.
Bei dem Streik geht es ums Geld – aber nicht nur. Über die Lohnerhöhung von 6,75 Prozent war man sich einig. Die Gewerkschaft verlangte jedoch zusätzlich die Einführung einer Viertagewoche auf Probe. „London Underground“ lehnte ab. Die Behörde, die für die „Tube“ verantwortlich ist, sagte, der Aufwand für die Schichtpläne sei so groß, dass man die Fahrpreise erhöhen müsste. Das will der linke Bürgermeister Livingstone nicht.
Stattdessen bot man den U-Bahn-Angestellten die Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 37,5 auf 35 Stunden bis 2006 an. Das wiederum lehnte die Gewerkschaft ab: Da die 35-Stunden-Woche keine Mehrkosten verursachen darf, müsste London Underground bis zu 800 Angestellte entlassen. Für die übrig Gebliebenen würden die Arbeitsbedingungen unzumutbar.
Zwar zählt Großbritannien nicht zu den EU-Ländern mit der höchsten Wochenarbeitszeit. Trotzdem fragt die Sozialwissenschaftlerin Madeleine Bunting in ihrem Buch „Willige Sklaven“ mit gutem Grund, warum die technologische Entwicklung den Menschen nicht mehr Freizeit gebracht hat. Das Gegenteil sei der Fall. „Der historische Trend zur Reduzierung der Arbeitsstunden hat sich in Großbritannien in den vergangenen beiden Jahrzehnten umgekehrt“, schreibt sie. „Die Anforderungen vieler Jobs sind so groß, dass die Freizeit auf eine Ruhephase reduziert wurde, um sich auf die Anforderungen der nächsten Woche vorzubereiten.“
Bunting sagt, dass man diese Anforderungen seit der Industriellen Revolution auf zwei Arten definierte: Arbeitszeit und Anstrengung. Seit etwa 20 Jahren sei eine dritte Komponente hinzugekommen: „emotionale Arbeit“, Vom Kundendienstler bis zum Manager seien die emotionalen Anforderungen eines Jobs immens gestiegen, die Frage nach der Arbeitszeit stelle dabei niemand. Die „emotionale Arbeit“ werde auch weiterhin zunehmen und damit auch der Stress, glaubt Bunting.
Den Stress hatten am Mittwoch in London vor allem die Leute, die zur Arbeit wollten. Zum Berufsverkehr am Morgen fuhren allerdings fast 100 der sonst üblichen 500 U-Bahnen. Manche Angestellte waren dem Aufruf des Bürgermeisters gefolgt, den Streik zu brechen. Ein Gewerkschaftssprecher kündigte bereits weitere Streiks an.
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