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Allah ist groß, Allah ist anders

Der verengte Blick auf den aktuellen Terrorismus übersieht, dass sich der Islam in der arabischen Welt vor allem als jugendkulturelle Mode äußert. Für die Jungen steht er für Sinnsuche und Abgrenzung gegen „den Westen“ sowie die offizielle Kultur in den arabischen Staaten

Gegen Amerika,das bedeutet: für mehr Gerechtigkeit in der Welt, in Palästina und zu HauseDie Muslime fragen: Wann endlich wird der Westen aufhören, mit zweierlei Maß zu messen?

VON ALFRED HACKENSBERGER

Wenige Monate nach dem 11. September führt der 15-jährige Abdallah, der in Tanger in einem Lebensmittelgeschäft arbeitet, seinen Freunden schmunzelnd die rauchenden Twin Towers auf seinem Telefondisplay vor.

Im Westen würde man das wohl geschmacklos finden. In Marokko wurde es als pubertäre Spinnerei abgetan. Mit seinem Handy-Motiv wollte er lediglich seine „Haltung“ bekunden, die er täglich von Freunden und vom Fernsehen bestätigt bekommt: Gegen Amerika, das bedeutet: für mehr Gerechtigkeit in der Welt, in Palästina und zu Hause. Eine modische Grundhaltung, die er nicht nur mit den meisten marokkanischen Jugendlichen teilt.

Diese Haltung dürfte heute in der islamisch-arabischen Welt, so vielgestaltig und widersprüchlich sie sonst auch sein mag, vorherrschend sein. Religiös gewendet wird sie unter anderem durch das Bekenntnis zum Islam, der nach dem Niedergang linker Ideen und Bewegungen zum Hoffnungsträger geworden ist. „Selbst für meine Studentinnen, die ein 40.000 Dollar teures Auto fahren, Röcke und High Heels tragen, gilt es als cool, während des Ramadans zu fasten“, sagt Amal Saad-Ghorayeb, Politikwissenschaftlerin an der libanesisch-amerikanischen Universität in Beirut. „Das ist ein neuer Trend, der vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen wäre.“ Der Islam sei eine Mode geworden, meint die junge Wissenschaftlerin, und führt das auf eine Identitätskrise besonders der jüngeren Generation zurück. „Sie ist zwischen ihrer muslimisch-arabischen Tradition und dem westlichen Lebensstil hin und hergerissen.“ Ganz auf die Seite des Westens, der sie seit dem 11. September zurückweist und marginalisiert, kann sie sich nicht schlagen. „Um den Konflikt aufzulösen, befolgt man alle muslimischen Rituale und bewahrt sich gleichzeitig die westlichen Aspekte des Lebens.“

Den Islam als Mode zu bezeichnen dürfte im Westen, wo die muslimisch-arabische Welt hauptsächlich in Form von schlechten Nachrichten existiert, auf Unverständnis stoßen oder gar als Verharmlosung des Terrorismus ausgelegt werden. Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass das Phänomen des Terrorismus in der Regel ein Indiz für große gesellschaftskritische Bewegungen ist, von denen es sich losgelöst hat. In den Siebzigerjahren ließen sich auch brave Familienväter ihre Haare lang wachsen, die Mütter kürzten ihre Röcke und die ganze Welt trug weite Schlaghosen. Mit dem „bewaffneten Kampf“ der Roten Brigaden in Italien oder der Roten Armee Fraktion in Deutschland hatte das nur wenig zu tun. In der arabischen Welt ist das heute nicht anders. Terrorismus ist das Unternehmen einer kleinen, wenn auch gefährlichen Minderheit.

„Alle Bewegungen, sobald sie populärer werden, haben einen großen Nachahmungseffekt“, sagt Nizar Hamzeh, Professor für Politikwissenschaft an der Amerikanischen Universität Beirut. In der arabischen Welt funktioniere das nicht anders als im Westen. „Ja, der Islam ist zur Mode geworden, das kann man so sagen.“

Die meisten Europäer, die zum ersten Mal in ein arabisches Land reisen sind verblüfft, wenn sie sich in den ersten Tagen durch die arabischen Satellitenprogramme zappen. Al-Dschasira, den Nachrichtensender aus Katar, kennt man noch. Der Rest aber ist Neuland. „Da findet man ja alles, was es im westlichen Fernsehen auch gibt, nur als arabische Version“, stellte der deutsche House-DJ Hans Nieswandt erstaunt fest, als er auf Einladung des Goethe-Instituts im Nahen Osten unterwegs war. „Endlos viele Musiksender mit total teuer produzierten Videos. Wie auf MTV, nur in anderer Schrift“, fügt er hinzu.

Die arabische Medienwelt ist ein Paralleluniversum mit eigenen Game- und Talkshows, Superstar-Wettbewerben, Kindersendungen, Nachrichtenkanälen und islamischen Fernsehpredigern, die sich ganz im Stil amerikanischer Teleevangelisten gebärden: so global wie lokal. Bis auf ein paar Hollywoodfilme laufen in Kino und Fernsehen allerdings überwiegend arabische Produktionen, und auf den Musiksendern überwiegend arabische Popmusik. Die meisten TV-Sendungen sind religiös korrekt und familientauglich. Sexuell Freizügiges ist selten zu finden, bei ausländischen Spielfilmen werden lange Kuss- oder Nacktszenen herausgeschnitten. Wie rigoros das geschieht, das ist von Land zu Land verschieden.

Doch das ist nur die offizielle Kultur. Die Gegenöffentlichkeit dazu entfaltet sich im Internet. Dort finden sich auch unzählige islamische Webseiten, von radikalen Fundamentalisten bis zu liberalen Reformern. Dort geht es nicht nur um religiös-theoretische Fragen, sondern auch um praktische Lebenshilfe. In Chatforen diskutieren Heranwachsende über „Dating“, vorehelichen Sex und Mode. Im Internet gibt es aber auch „alles für die islamische Familie“. Für die Kinder das „Dschihad-Sweatshirt“ und eine Kappe mit der Aufschrift „Property of Allah“, für den Papa die „extra komfortable, Schweiß absorbierende Pilgerkleidung“ und für die Dame des Hauses einen modischen, langen schwarzen Kaftan mit dazu passendem schwarzen Schleier. Ganz abgesehen von „islamischen“ Haarölen, Beauty-Seifen, natürlichen Zahnbürsten, Parfüms, Räucherstäbchen, Schmuck, Unterwäsche sowie interaktiven Koranausgaben, Gebetsteppichen, Uhren und Telefonen, die weltweit die richtigen Gebetszeiten ansagen. Und auf der Website „Modest cloth for modest people“ entschuldigte man sich dafür, dass gerade alle Kopftücher ausverkauft seien.

Vor gut dreißig Jahren war das „Hidschab“ genannte Kopftuch in Kairo oder Beirut, damals westlich orientierte Metropolen, noch ein Symbol der Gegenkultur, das Rückständigkeit und Antimoderne signalisierte. „Heute ist es ein feministisches Statement“, behauptet Amal Saad-Ghorayeb, die sich selbst als Agnostikerin bezeichnet. „Das Kopftuch befreit von den Modediktaten, den Schönheitsidealen und den Avancen der Männer.“

Tayyibah Taylor, die Chefredakteurin von Azizah, einem Frauenmodemagazin, das in Chicago erscheint und sich an amerikanische Musliminnen wendet, sieht das ähnlich. „Frauen, die ihren Körper freizügig zeigen, vertrauen auf ihre sexuelle Ausstrahlung, um weiterzukommen. Muslimische Frauen dagegen, die sich sittsam kleiden, setzen auf ihren Intellekt und ihre spirituelle Kraft, um etwas zu erreichen“. In Azizah sind demzufolge nur Frauen zu sehen, die sich selbstbewusst und ganz selbstverständlich bedeckt halten. Modisch modern, versteht sich.

Dieses neue islamische Frauenselbstbewusstsein ist auch der Grund dafür, dass mehr und mehr TV-Nachrichtensprecherinnen wie Khadidscha Bin Kana auf al-Dschasira sich ihrem Millionenpublikum plötzlich mit Kopftuch zeigen. Aber auch im Supermarkt oder im Reisebüro, ob nun in Beirut oder in Kairo, erscheinen immer mehr junge Frauen plötzlich mit Kopfbedeckung.

Eine derartige „Umwertung der Werte“ erfolgt nicht von heute auf morgen. In den Siebzigerjahren wurde der Islam als „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus entdeckt, als neues Versprechen einer besseren und gerechteren Welt. „Zugegeben, der Islam hat sich zwar in den letzten drei Jahrzehnten enorm ausgebreitet“, meint Amal Saad-Ghorayeb, die junge Politikwissenschaftlerin. „Aber islamische Ansichten und Meinungen sind interessanterweise erst seit ein paar Jahren massiv in der Öffentlichkeit präsent.“ Eine Präsenz, die erst durch die „arabische Medienrevolution“ der letzten drei Jahre möglich wurde.

„Nach dem 11. September gab es in der arabischen Welt ein verstärktes Bedürfnis nach anderen, nicht westlichen Nachrichten“, erklärt Ibrahim Mousawi vom Hisbollah-nahen al-Manar TV, welcher mit rund zehn Millionen Zuschauern zu einem der drei beliebtesten Fernsehsendern des Libanon zählt. „Man wollte einfach die Wahrheit sehen.“ Heute wird die je eigene „Wahrheit“ von al-Manar, al-Dschasira oder al-Arabia in die ganze Welt ausgestrahlt: Bilder von der israelischen Armee oder den USA, von getöteten Zivilisten in Palästina und im Irak, von „Widerstandskämpfern und Märtyrern“ oder von den gefolterten Gefangenen in Abu Ghraib.

Während der Invasion der USA in Afghanistan war das noch etwas Neues. Heute ist diese andere Nachrichtenperspektive alltäglich. Wie in Europa oder den Vereinigten Staaten sind die Medien dabei Teil eines kulturellen und politischen common sense, deren Werte und Normen sie ständig reproduzieren.

In privaten Gesprächen oder bei offiziellen Anlässen kreist die Debatte in der arabischen Welt dabei immer wieder um die gleichen Fragen. Wann endlich wird der Westen aufhören, mit zweierlei Maß zu messen und nach Gutdünken Diktatoren zu stützen oder abzusetzen? Warum wird den Palästinensern kein Widerstandsrecht anerkannt, wo doch unter israelischer Besatzung tagtäglich Frauen und Kinder getötet werden? Sind diese Toten weniger wert als die Toten von Madrid oder New York? Warum nimmt man uns nicht als gleichwertige Menschen wahr, sondern reduziert uns auf Steinzeit-Islam und Terroristen-Klischees?

Fragen, die nicht nur in Washington gern als unsachliche Kritik abgetan werden. In Beirut, Casablanca, Kairo oder Damaskus sind diese Standpunkte aber eine Selbstverständlichkeit. Wer tatsächlich an einem friedlichen Dialog interessiert ist, muss Antworten auf diese Fragen liefern.

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