: Das große Streichkonzert
Jeden Tag kann Lance Armstrong, Sieger der zweiten Pyrenäenetappe, weitere Namen von der Liste derjenigen entfernen, die seinen sechsten Sieg in Folge bei der Tour de France gefährden könnten
AUS NIMES SEBASTIAN MOLL
Es war ein merkwürdiger Anblick, wie sich Jan Ullrich am Samstag abgehängt und ohne Helfer alleine durch die bedrohlichen Massen baskischer Fans die 16 Kilometer zum Plateau de Beille hinaufkämpfte. Wissend, dass der Tour-Sieg sich gerade in den Personen von Lance Armstrong und Ivan Basso in Richtung luftigerer Pyrenäenhöhen verflüchtigt hatte; und gleichermaßen gegen die Resignation ankämpfend, wie gegen Beine, die einfach nicht mehr hergeben wollten.
Immerhin, Jan Ullrich war an diesem Tag nicht der einzige Tour-Favorit, dessen große Ambitionen, dessen Lebensinhalt der vergangenen Monate auf den Landstraßen der Gascogne liegen blieben. Keiner der Männer, die ausgezogen waren Lance Armstrong das Fürchten zu lehren, sind nach diesem Wochenende noch im Rennen. Haimar Zubeldia, Iban Mayo, Tyler Hamilton, Denis Mentschow, Roberto Heras – sie mussten in den Pyrenäen entweder absteigen oder ihre großen Hoffnungen wie eine leere Trinkflasche in den Straßengraben werfen. „Es ist verrückt“, sagte Lance Armstrong – der einzige Favorit, der seine Erwartungen erfüllt – nach den zwei vorentscheidenden Pyrenäentagen. „Wir schauen uns abends das Rennen an und müssen jeden Tag Namen von der Liste derjenigen streichen, auf die wir achten.“
Den Reigen der Aufgaben eröffnete am Samstag Haimar Zubeldia, der Tour-Fünfte des Vorjahres. 19 Kilometer nach dem Start in Lannemezan übergab er seinem Mannschaftsmechaniker sein Arbeitsgerät und setzte seine Etappe im Auto fort: „Es hat keinen Sinn mehr, mein Knie tut so weh, dass ich hier nichts ausrichten kann.“ Somit starb die erste große Hoffnung der etwa 100.000 baskischen Fans, die an die Pyrenäenhänge gekommen waren, um ihre „Euskadis“ in den orangenenTrikots der rein baskischen Truppe Euskaltel zu bejubeln. Nicht viel später starb die zweite baskische Hoffnung. Iban Mayo, der „Riesen-Töter“ von L‘Alpe d’Huez im vergangenen Jahr, schob frustriert sein Rad an den Straßenrand. „Es ist furchtbar, weil ich von meinem Sturz in Nordfrankreich eigentlich keine körperlichen Blessuren davongetragen habe. Aber meine Beine springen einfach nicht an. Ich dachte, es sei besser aufzugeben.“ Doch nachdem Zubeldia schon im Auto saß, wollten die Euskadis nicht auch noch ihren zweiten Chef verlieren und überredeten ihn, weiterzufahren. Mit 37 Minuten Verspätung quälte er sich die Passhöhe am Plateau de Beille hinauf und entschuldigte sich danach bei den Fans: „Es tut mir leid für alle Basken, die an mich geglaubt hatten.“ Jetzt hofft er, bis zu den Alpen die Kraft für eine Attacke wieder zu finden, um seinen Anhängern wenigstens noch für einen Tag etwas bieten zu können.
In den ersten Serpentinen hinauf zum Col de la Core, dem ersten Anstieg des Tages, erwischte es Tyler Hamilton. Anders als bei Mayo musste Hamiltons Team den Mann aus Massachussetts überreden, nicht weiterzufahren. „Tyler – denke ausnahmsweise einmal an deine Gesundheit anstatt an die Mannschaft“, redete Alvaro Pino, Sportlicher Leiter bei Phonak, auf den Amerikaner ein, der noch nie eine Rundfahrt aufgegeben hatte – nicht, als er sich beim Giro d’Italia 2001 das Schulterblatt gebrochen hatte, und auch nicht, nachdem er sich auf der ersten Etappe der vergangenen Tour das Schlüsselbein brach. Diesmal ließ sich Hamilton überzeugen. Schon seit einer Woche plagten ihn nach einem Sturz starke Rückenschmerzen. „Mit den Schmerzen kann ich umgehen“, sagte Tyler Hamilton, als zweifele irgendwer an seiner Leidensfähigkeit. „Das Problem ist, dass ich keine Kraft im Rücken habe. Und wenn man am Berg keine Kraft im Rücken hat, dann ist man nutzlos.“
Nutzlos waren am Samstag auch Denis Mentschow und Roberto Heras. Mentschow, bester Jungprofi und Elfter der Tour des Vorjahres, gab mit Beschwerden an der Achillessehne auf. Heras stürzte zunächst und verlor dann 21 Minuten. „Ich bin einfach nicht in Form“, sagte Heras, „und ich habe keine Erklärung dafür.“
Eine einfache Erklärung scheint es für das bizarre Favoritensterben auf den ersten beiden Bergetappen der Tour auch nicht zu geben. T-Mobile-Teamchef Walter Godefroot und Lance Armstrong waren sich auf Anfrage in ihrer Verwunderung einig: „Ich verstehe das nicht“, sagten sie beide unumwunden. Georg Totschnig vom Team Gerolsteiner, einer der Männer, die sich nach dem Ausscheiden der großen Namen nun in den Vordergrund schieben, glaubt an eine zufällige Gleichzeitigkeit von Einzelschicksalen: „Jeder Einzelne hat einen anderen Grund, ein anderes Problem.“ Probleme freilich, die sich auf den Flachetappen noch kaschieren ließen. Das Hochgebirge bringt jedoch alles ans Tageslicht. Und so weiß man nun nach 13 Tagen der Kaffeesatzleserei endlich, wer die wahren Favoriten der Tour 2004 sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen