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Und Gott sprach durch ein Taschenbuch

Jesus ist ein toller Typ, Jesus liebt dich. Vor 30 Jahren erregten bibelschwingende Hippies die Aufmerksamkeit der Medien. Langhaarige schworen den Drogen ab, ließen sich gar in der Havel taufen. Volkhard Spitzer, Initiator der „Jesus People“-Bewegung in Berlin, wird heute 60 Jahre alt

Auf Ollis breiten Armen prangen martialische Tatoos, Motiv Flammen und Todesritter. Türsteher sehen aus wie Olli, einen Gottesdienstbesucher stellt man sich anders vor. Früher hing er in der Hooligan-Szene rum, heute sagt er, dass die Tabor-Gemeinde in Kreuzberg seine Familie sei und Jesus sein bester Freund – alles, nachdem er sich eine Kur erschlichen und dort eine Bibel gelesen hatte, die er von einem christlichen Biker geschenkt bekam.

Für Volkhard Spitzer, Pastor der freikirchlichen Gemeinde, ist Ollis Geschichte ein Déjà-Vu. Nur waren es vor 30 Jahren Hippies, so genannte Jesus People, und keine Rocker, die ihren bisherigen Freundeskreis gegen Kumpel Jesus eintauschten.

1964 kam Spitzer, der heute 60 wird, nach Berlin. Er übernahm eine Pfingst-Gemeinde am Nollendorfplatz. Die bestand anfangs aus etwa 80 älteren Damen. Kriegswitwen, klassisch im schwarzen Gottesdienst-Look. Nach sechs Jahren hatte Spitzer genug: „Ich war frustriert, weil meine Arbeit immer derselbe Trott war.“ Zeit für ein Zeichen.

Spitzer zog sich zurück, und Gott sprach durch ein Taschenbuch. Das Werk „In seinen Fußstapfen“ erzählt von einem Landstreicher, der eine reiche Gemeinde aufsucht und abgewiesen wird. „Ich erkannte, dass auch ich die Menschen bisher sortiert hatte – die Braven hier, die langhaarigen Penner dort.“ Spitzer, aus gutem Hause, schlüpfte in Jeans und Parka, nahm Kontakt zu Hippies auf.

Wenig später kam ein drogensüchtiges Mädchen in die Gemeinde und erzählte Spitzer ihre Geschichte. „Ich betete mit ihr, und sie ging wieder zurück in ihre Kommune.“ Nichts Dramatisches. Doch bald kam das Mädchen zurück, sagte, der Glaube habe sie clean werden lassen. Sie brachte weitere Hippies in die Gemeinde. Nach kurzer Zeit saßen alte Damen neben ungewaschenen Typen ohne Hemd und in zerschlissenen Hosen, die laut „Jesus, komm in mein Herz“ riefen – manchmal auch: „Ist doch scheiße, was du da erzählst.“

Die Altmitglieder haben die Hippies jedoch gut aufgenommen und als ihre Kinder betrachtet, sagt Spitzer. Die Gemeinde wuchs – auch weil ab und an Männer hängen blieben, die ursprünglich in das benachbarte Pornokino wollten und sich in der Tür geirrt hatten. Die Hippies erzählten von ihren Erlebnissen mit Gott, sangen Gospels, die Älteren Choräle: Die „Jesus People“ waren geboren.

„Die jungen Leute waren enttäuscht, weil sie 68 nicht das erreicht haben, was sie wollten“, glaubt Spitzer. Daraufhin suchten sie den Sinn ihres Lebens im Inneren, bei Meditation oder eben bei Drogen. Die „Jesus People“-Bewegung gab ihnen mit Jesus, dem Kumpel für alle Lebenslagen, einen weniger gesundheitsschädlichen Ersatz für LSD.

Die Medien wurden aufmerksam, filmten Spitzers Taufe von Exjunkies in der Havel, und im Spiegel kündigte er 1971 eine Jesus-Revolution für das nächste Jahr an. Dazu kam es nie. Nach etwa fünf Jahren versandete die Bewegung. Trotzdem will Spitzer nicht von Scheitern sprechen. „Gut, es wurden keine hunderttausende, aber immerhin wuchs meine Gemeinde auf 1.200 Menschen an, und einige Exjunkies wurden Ärzte, Pfarrer und Missionare.“ Außerdem engagierte er sich stark in der charismatischen Bewegung, die überkonfessionell Gemeinden und Mission erneuern wollte. „Das hat nur nicht so viel Schlagzeilen gemacht wie bibelschwingende Hippies.“

Jetzt beginnt sich die Geschichte zu wiederholen. Nach mehreren Jahren als Missionar übernahm Spitzer 1998 die Tabor-Gemeinde mit 18 Mitgliedern, meist ältere Frauen. Heute umfasst die Gemeinde fast 200 Menschen. Und zwischen den alten Damen, die den Chorälen lauschen, sitzen Typen wie Olli, die auf die Musik mit E-Gitarre, Bass und Schlagzeug abfahren.

STEFFEN BECKER

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