: „Es ist noch niemand verloren gegangen“
„Sie sollen alles machen – nur nicht sehen“: Simone Bettermann-Grüttner kann man blind vertrauen. Die 35-jährige erblindete Sozialarbeiterin ist seit zwei Jahren „Guide“ in der Hamburger Ausstellung „Dialog im Dunkeln“. Dort zeigt sie den Besuchern, wie es ist, eine Stunde lang nichts zu sehen
taz: Was empfinden sehende Menschen, wenn sie auf einmal ins Dunkle geführt werden?
Simone Bettermann-Grüttner: Das ist eine völlig ungewohnte Situation für die Leute. Die meisten glauben gar nicht, dass es so dunkel werden kann. Sie stellen sich vor, dass es wie nachts ist, und sind dann völlig überrascht, wenn sie merken: Es ist wirklich absolut dunkel. Fast alle Leute sind am Anfang unsicher und haben ein bisschen Angst.
Wie nehmen Sie den Leuten diese Angst?
Ich versuche, mich auf die Gruppe einzustellen, herauszufinden, was das für Leute sind, wie alt sie sind, ob sie sich untereinander kennen, ob sie schon einmal hier waren. Viel mache ich auch mit meiner Stimme, wirke beruhigend auf die Leute ein. Ich rede mit ihnen und sage ihnen, dass ich immer bei ihnen bin und nicht weglaufe. Außerdem versuche ich, sie in den ersten zehn bis 15 Minuten in ständiger Ablenkung zu halten. Ich frage sie, ob sie irgendwelche Geräusche hören, oder lasse sie eine Pflanze ertasten. Sie sollen alles machen, nur nicht sehen!
Ist es Ihnen auch schon mal passiert, dass Sie jemanden nicht beruhigen konnten?
Ja, das kommt schon mal vor. Das passiert dann auch meistens in den ersten fünf bis zehn Minuten. Wenn die Leute rauswollen, führe ich sie selbstverständlich auch wieder ins Helle.
Sie machen auch Führungen mit Schulklassen. Reagieren Kinder anders im Dunkeln?
Ich finde Kinder einfacher, weil sie mehr Emotionen zeigen. Erwachsene versuchen, sich im Dunkeln genauso zu kontrollieren wie in der Öffentlichkeit. Kinder sind da freier. Sie weinen einfach mal und teilen sich mit: „Oh, da ist was, kommen Sie mal!“ Erwachsene sagen manchmal keinen Ton. Das ist dann besonders schwierig für mich.
Wie behalten Sie den „Überblick“ über ihre Gruppe?
Ich weiß vorher, wie viele Leute in der Gruppe sind. Manchmal rufe ich die Besucher bei ihren Namen. Wenn irgendjemand nicht reagiert, dann muss ich ihn eben suchen. Verloren gegangen ist mir noch niemand.
Was gefällt den Leuten am besten an der Führung?
Die Highlights sind die simulierte Bootsfahrt und der Klangraum. Das ist für die Leute wie ein Freizeiterlebnis. Sie haben wirklich das Gefühl, auf einem Schiff zu sein und eine Hafenrundfahrt zu machen. Im Klangraum kann man völlig entspannen, Musik hören und sie auch fühlen, weil Lautsprecher in den Boden eingebaut sind.
Und womit haben die Besucher am meisten Probleme?
Am schwierigsten finden sie den „Stadt“-Raum, weil sie dort einer unglaublichen Geräuschkulisse ausgesetzt sind. Sie stellen sich dann vor, wie es ist, wenn man als Blinder im Straßenverkehr zurechtkommen muss.
Zweimal im Monat begleiten Sie außerdem das „Dinner in the Dark“ – was passiert dort?
Das ist ein Vier-Gänge-Menü im Dunkeln. Die Leute erfahren nicht, was sie zu Essen bekommen, die Gerichte können sie sich erst nachher bei Licht anschauen. Oft erkennen die Teilnehmer die Speisen nicht gleich. Sie fangen dann an, sich auszutauschen und widersprechen sich dabei oft völlig: „Das ist doch Pute!“ „Nein, das ist garantiert Wild!“ Ob man Messer und Gabel benutzt oder die Finger, bleibt jedem selbst überlassen – es sieht ja keiner. Das schafft eine sehr gelassene Atmosphäre!
Welche Erfahrungen teilen Ihnen ihre Besucher nach der Führung mit?
Fast alle Besucher sagen, sie seien reicher an Erfahrungen geworden. Das freut mich natürlich sehr. Denn im Dunkeln gibt es genauso eine Realität wie draußen in der „sehenden Welt“ – für uns Blinde ist die Dunkelheit die Realität.
Glauben Sie, dass die Menschen nach Besuch der Ausstellung ein anderes Verhältnis zu Blinden haben?
Ich treffe oft Leute, die mich ansprechen und fragen: „Kann ich helfen?“, und mir dann sagen, dass sie schon mal bei mir im „Dialog im Dunkeln“ waren. Das ist schon eine ganz andere Ausgangsbasis, als wenn die Leute mich sehen und gar nichts mit der Frau anfangen können, die mit einem Stock herumläuft
Interview: Carolin Ströbele
Die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ (Alter Wandrahm 4) kann nur mit Führung (Anmeldung unter Tel.: 0700 - 44 33 2000) besucht werden. Geöffnet Di–Fr 9–17, Sa/So 11–19 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen