: Zeit dehnen
Geheimnisse am Straßenrand: Schulwege folgten seit je einer eigenen Logik. Zwischen Abenteuer und Sicherheit
Die Mutter, erinnert sich Erich Kästner, sei in ihrer Sorge, dass dem Jungen auf dem Weg zur Schule etwas passiert, sogar heimlich hinter ihm hergelaufen. Damit er sie nicht bemerke, sprang sie hinter Plakatsäulen und in Hauseingänge. Erst wenn der Sohn die Schulpforte passiert hatte, war auch sie beruhigt.
Der Schulweg gehört zum Schulkind wie das Pausenbrot. Hier bewegt es sich auf „seinem“ Terrain, einem durch alltägliche Benutzung vertraut gewordenen Raum. Doch weil er öffentlich ist, birgt er auch Gefahren, ein Grund für die Sorge vieler Eltern. Das „Museum Kindheit und Jugend“ präsentiert nun eine Ausstellung, die von diesem Doppelaspekt erzählt: „Schulwege in Berlin“.
Wochenlang hat sich Volker Döring mit seiner Kamera vor Schulen in Kreuzberg und Prenzlauer Berg gestellt, um die Stimmung der morgendlichen Rushhour einzufangen, die nach wenigen Minuten abrupt endet: Am Straßenrand wartende Kinder mit Schulranzen, Kinder, die sich zwischen fahrenden Autos hindurchschlängeln, andere, die aus dem elterlichen Auto steigen oder mit dem Montainbike kommen. Mit der Einwegkamera in der Hand haben Schüler aus fünften, sechsten und siebten Klassen selbst ihre „Schulwege“ fotografiert und kommentiert. Hier erscheint die Passage alltäglich, nicht zwingend abenteuerlich, nicht unbedingt schön. Man sieht Grünanlagen, Trottoirs, Zäune, Menschen, Hunde, Müll. Bei genauerem Hinsehen lassen sich aber einzelne Spuren ausmachen, die der Szenerie etwas Bizarres verleihen: Ein schwarzer, gekrümmter Hund, der in die Kamera schaut, ein Mann, der dem Betrachter den Rücken zuwendet, eine zufällig ins Bild geratene, erstaunte Schulfreundin. In den Selbstwahrnehmungen wird deutlich, dass auf dem Schulweg Fantasie, Spiele und Abenteuer ihren Platz haben.
Erinnerungen werden wach, an die morgendliche Hektik, weil man pünktlich kommen musste, und den Heimweg am Nachmittag, auf dem man mit Freund oder Freundin immer neue Variationen der bekannten Spiele probierte, um den Weg zu verlängern und die Zeit zu dehnen.
Die historischen Dokumente der Ausstellung, Texte und Abbildungen aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert bestätigen, wie sehr Kinder auch früher schon „ihren“ Schulweg als eigenen Raum wahrgenommen haben. Man erfährt, wie Schüler vor zweihundert Jahren den Ochsen auf dem Markt an der Jannowitzbrücke an die Hörner fassen konnten oder, hundert Jahre später, den Bau der elektrischen Stadtbahn bewunderten. Man liest den Appell des Direktors der Königlichen Elisabethschule anno 1892, der die Eltern auffordert, darauf zu achten, dass die Mädchen nach der Schule unverzüglich den Nachhauseweg antreten und nicht etwa an der Jungsschule Halt machen. Neben der moralischen Entrüstung aus der Kaiserzeit prangt Erbauliches aus der DDR-Volksbildung: bunte Cartoons mit Pionieren und gereimten Ermahnungen: „Wenn unterwegs auch viel passiert / bleib auf dem Schulweg konzentriert.“
JANA SITTNICK
„Schulwege in Berlin“, bis Februar 2004, Di.–Fr. 9–17 Uhr, Sa. + So. 10–18 Uhr, Museum Kindheit und Jugend, Wallstraße 32
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