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Autonomie braucht Starthilfe

Genau ein Bremer nimmt bislang ein selbstbestimmtes „persönliches Budget“ für sich in Anspruch. Antragsberechtigt sind 1.300. Verantwortlich ist ein Mix aus vielen Gründen, nicht nur negativen

Von Henning Bleyl

Der Name des Pioniers wird streng geheim gehalten. Es soll ein so genannter „seelisch Behinderter“ sein, der als erster Bremer ein „persönliches Budget“ in Anspruch nimmt. Und damit selbstbestimmter als zuvor entscheidet, welche persönlichen Assistenzen oder institutionellen Hilfen er einkauft.

Seit Anfang 2008, seit das persönliche Budget bundesweit zum Rechtsanspruch wurde, sind beim Bremer Amt für Soziale Dienste 21 Anträge eingegangen. Neben dem Bewilligten befinden sich zwei in der Warteschleife, die übrigen 18 wurden nach Auskunft des Amtes wegen zu hohem Einkommen der Antragsteller oder anderer „nicht sachgerechter“ Umstände – etwa der Primär-Zuständigkeit von Krankenkassen – abgelehnt.

In Hannover gibt es „immerhin“ fünf Budgetnehmer und 49 laufende Anträge. Bundesweit sollen es laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales an die 10.000 Menschen sein, die nunmehr als Auftraggeber in eigener Sache agieren. Rund 635.000 Behinderte und psychisch Kranke sind anspruchsberechtigt. Die Zahl 10.000 wird allerdings immer wieder in Frage gestellt, da beispielsweise Rheinland-Pfalz auch „Budgets für Arbeit“ mitzählt. Für Juliane Meinhold vom Berliner „Kompetenzzentrum Persönliches Budget“ sind das „auf dem Weg der Abtretung geregelte kalte Sachleistungen“, die nicht wirklich der intendierten Zielsetzung entsprächen.

Kern der Budget-Idee ist die Möglichkeit, statt Sachdienstleistungen Geld zu bekommen – und entsprechend der individuellen Bedürfnisse auch einzusetzen. In einigen Fällen werde dabei mit Einsparungen gerechnet, sagt Hans-Joachim Steinbrück, der Bremer Behindertenbeauftragte: „Die Unterbringung im Heim ist meist wesentlich teurer, als wenn jemand selbstständig lebt“ – eine Win / Win-Situation. Allerdings stößt auf Kritik, dass die Bremer Umsetzungsrichtlinie zum Bundesgesetz pauschal verlange, dass Budgetnehmer weniger ausgeben dürfen als andere Leistungsempfänger. Wolfgang Luz vom Paritätischen Wohlfahrtsverband stößt sich vor allem an der explizit festgelegten Nicht-Übernahme von Trägerkosten. Dabei verursachten insbesondere Teil-Budgets höhere Verwaltungskosten für die Träger als die herkömmliche „All inclusive“-Fremdversorgung, was auch Steinbrück bestätigt.

Der Landesbehindertenbeauftragte fordert die Träger nichtsdestoweniger zu mehr Flexibilität auf. Wenn Heimbewohner sonntags selber kochen wollen statt von der Großküche versorgt zu werden, müsse eine solche „Modularisierung“ zum Abbau von anfänglichen Unsicherheiten ermöglicht werden.

Wilhelm Winkelmann vom Verein „Selbst bestimmt Leben“ sieht auch positive Gründe für die geringe Budget-Nachfrage: In Bremen gebe es „eine umfängliche Trägerlandschaft, die einen relativ guten Job“ mache. Steinbrück drückt es so aus: „Wer hier nicht im Heim leben möchte, hat auch ohne das persönliche Budget dafür Möglichkeiten.“ Bereits vor Einführung des gesetzlichen Anspruchs sei es in Einzelfällen möglich gewesen, Geld statt Sachleistungen zu erhalten.

Einig sind sich alle Beteiligten – von Winkelmann über Luz bis zu Steinbrück – in der Einschätzung, dass es zu wenig Begleitung für potentielle Budgetnehmer gibt. Zwar existieren neben dem Martinsclub und der Lebenshilfe auch drei trägerunabhängige Beratungsstellen. Trotzdem fehle Personal für Amtsbegleitungen, sagt Simon Brukner vom Martinsclub. Im übrigen sei die Existenz der Beratungsstellen nur bis Ende kommenden Jahres gesichert.

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