: berliner szenen Im Jobcenter Neukölln
49 Schritte
Ein Schritt dauert hier im Schnitt viereinhalb Minuten. Sie weiß das, weil sie bisher neunzehn Schritte gegangen ist und seit 82 Minuten in der Schlange steht. Einer groben Schätzung zufolge fehlen noch 50 Schritte bis zum Schalter. Zweihundertfünfundzwanzig Minuten. In charmanter Begleitung der Existenzangst.
Die wird hier an den Eingangstüren verteilt und schwebt gleichsam über allen dort, in der Schlange im Jobcenter Neukölln. Aber abgeben, beim Rausgehen, kann man sie nicht. Das wär’ ja noch schöner, sagen sie, die könnt ihr schön mit nach Hause nehmen.
Wie misst man die Existenzangst eigentlich, fragt sie sich. In Kilo? In Litern? In Newton würde vielleicht Sinn machen, sie zieht einen runter und jeder Schritt fällt schwer. Der jetzige zum Beispiel. Sie denkt abwechselnd an verpasste Chancen, abgebrochene Praktika und Asterix’ Passierschein A 38. Am Schalter werden sie ihr sagen, dass Plausibilitätserklärung 175 b II noch fehlt, dass die Kontoauszüge der letzten dreizehn Jahre notwendig sind, und dann werden sie ihr noch dreizehn neue Formulare in die Hand drücken und sie zum nächsten Schalter schicken.
„Ähm, Entschuldigung“, sagt sie und tippt ihren Schlangennachbarn an, um zu fragen, wie so etwas eigentlich passieren kann, warum wir mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick unsere Schritte zählen, und überhaupt, die Finanzkrise ist da, wo bleibt der Charme der Zwanziger? Wo bleiben die Arbeiterlieder? Und wo Jazz und Charleston? Er dreht sich um, sie fragt nach der Zeit. Dann wieder das leise Schlurfen, während die Schlange stumm ihre Schritte vor sich herzieht. Noch 49 Schritte, denkt sie, 13.230 Sekunden. 49 Mal newtonsche Existenzangst überwinden. JUDITH POPPE
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