: Hamburg morbid
Die hanseatische Regierungskrise ist noch nicht bewältigt. Alle warten auf die nächste Detonation der Tretmine Schill
HAMBURG taz ■ Am Tag danach herrscht trügerische Ruhe in Hamburgs Politik. Zu knapp schrammte die Rechtskoalition von CDU, Schill-Partei und FDP an einer Niederlage vorbei, die ihr Ende und damit Neuwahlen im Stadtstaat an der Elbe bedeutet hätte. Vorgestern hatte das Hamburger Parlament, die Bürgerschaft, den Nachfolger des entlassenen Innensenators Ronald Schill zu wählen.
Sechzig von 121 Stimmen für den neuen Innensenator Dirk Nockemann (Schill-Partei) reichten in der geheimen Abstimmung nur, weil zwei Abgeordnete „Nein“ ankreuzten und den Wahlzettel durch zusätzliche Krakeleien ungültig machten, und zwei weitere sich enthielten.
Alle vier Abweichler, darüber herrscht Einigkeit unter Politikern und politischen Beobachtern, kommen aus der Schill-Fraktion. Darunter auch Ronald Schill selbst, der offen zugibt, sich enthalten zu haben. Seine Aufgabe im Parlament sei es, zu verhindern, erklärte er vollmundig, dass die Schill-Fraktion „zum Wurmfortsatz“ der Union werde – die politische Tretmine Schill ist noch lange nicht entschärft. Niemand in Hamburg wettet deshalb darauf, dass der Rechtssenat die zwei Jahre bis zu turnusmäßigen Neuwahlen im Herbst 2005 übersteht.
Zwei Termine für eine Detonation werden bereits diskutiert. Die Generaldebatte über den Haushalt 2004 Mitte Dezember wäre eine Gelegenheit für Schill und seine Getreuen, eine Generalabrechnung vorzulegen. Ohne Mehrheit für den Etat wäre die Rechtskoalition am Ende ihres Weges angelangt.
Doch das Ende könnte bereits früher kommen. In drei Wochen, am 24. September, muss die Bürgerschaft in namentlicher Abstimmung über ihre Selbstauflösung befinden. Ihr gemeinsamer Antrag, beteuern die Fraktionsspitzen der oppositionellen SPD und GAL, sei keineswegs als „Polittheater“ zu verstehen. Die Regierungsfraktionen sollten gezwungen werden, „sich eindeutig zu ihrer Koalition, ihrem Bürgermeister und ihrem Abgeordneten Schill zu bekennen – oder eben nicht“. Und natürlich ist dies, unabhängig vom Ausgang der Abstimmung, Rot-Grün eine willkommene Gelegenheit für eine erneute öffentlichkeitswirksame Aufwärmung des Schill-Skandals.
Bis dahin will die SPD auch ihren Herausforderer für CDU-Bürgermeister Ole von Beust benannt haben. Bundesparteichef Olaf Scholz hatte zwar stets darauf beharrt, diese Personalie bis Mai 2005 offen zu halten. Angesichts der aktuellen Entwicklung ist dies aber kaum noch durchzuhalten. Eine Klausurtagung des Landesvorstandes am 13. September soll für Klarheit sorgen. Bislang hat nur Exsenator Thomas Mirow seinen Hut in den Ring geworfen, Scholz selbst hält sich weiterhin bedeckt.
Nockemann übrigens vereidigte gestern an seinem ersten Arbeitstag als Senator 43 neue Polizisten und kündigte an, die Deutschlandflagge im Chefbüro der Innenbehörde durch moderne Kunst zu ersetzen. Und Schill erklärte süffisant, sich erst mal auf Kuba erholen zu wollen. Ihn reize das Kennenlernen eines „morbiden Regimes“.
SVEN-MICHAEL VEIT
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