: Solange geschunkelt werden kann
Wie viel Vergangenheit braucht der Mensch? Wie viel Utopie steckt in der Ostalgie? Die Fragen stellen sich bei einer theatralen Begehung im ehemaligen Tagebaukombinat Espenhain, zu der das Centraltheater Leipzig und die Regisseure Dirk Cieslak und Annett Hardegen eingeladen haben
VON TORBEN IBS
Der Braunkohletagebau der DDR hat dauernde Spuren in Landschaft und Menschen hinterlassen. Solche Spuren werden von einem nach Authentizität hechelnden Kulturbetrieb gern auch in ihrer Bedeutung für Identität, ja Heimat befragt. Ostfolklore als Geschichtspolitik. Natürlich als Koproduktion von Schauspielern und Laien, wobei Letztere als Experten des Orts, der ihr Arbeitsleben war, fungieren.
Für das Centraltheater Leipzig haben die Regisseure Dirk Cieslak und Annett Hardegen von der freien Theatergruppe Lubricat die Recherche übernommen. Einem Theaterabend in Leipzig (Premiere am 19. März) geht eine Rückkehr an den Urgrund der Braunkohle südlich von Leipzig voraus. „Braune Kohle. Eine utopische Zeitreise in den Arbeitsalltag der DDR“ führt in die ehemalige Schaltwarte des Kombinats Espenhains im Süden Leipzigs. Ehemalige Kombinatsmitglieder leiten die Besucher durch die Schaltwarte, die zwischen 1938 und 1943 entstanden ist. In kleinen Gruppen werden die Zuschauer durch die riesigen Werkshallen geführt, wo bis 2006 Strom für die umliegenden Tagebaue und Ortschaften bereitgestellt wurde.
Der Führer unserer Gruppe ist Frank Hankel. Er hat im Kombinat als Ausbilder gearbeitet und junge Menschen in die Kraftwerkstechnik eingeführt. Wie alle trägt er die blaue Jacke mit dem trotzigen Ärmelaufnäher „VEB Kombinat Espenhain“. Die Zeitreise kann beginnen. Sie führt in die Unwirklichkeit einer vergangenen Industriekultur. Bis auf mannshohe Isolatoren und hier und da ein paar stehen gebliebene Relaiskästen beinhalten diese gigantischen Räume fast nichts.
Unterstützt wird das ehemalige Personal von Schauspielern. Etwa durch Albrecht Schuch, der in einem mit Glitzersteinen besetzten Blaumann als letzter Arbeiter in der 100-KV-Halle nach dem Rechten sieht. Straßenlaternen beleuchten seinen Weg. Schuch, die Weite des Raums nutzend, kegelt. „Es gibt da einen Denkfehler in der Sprache der Ökonomie“, doziert Schuch aus einem Essay von Wolfgang Hilbig und schlägt damit locker den Bogen vom vergangenen Gestern zum plagenden Heute. Seine Worte verhallen aber in der Größe des Raums, und schon bald treibt Fabrikführer Hankel zu weiteren Stationen.
Hier erinnern Video- und Toninstallationen an Großtaten des Sozialismus wie die Sprengung der Kirche in Magdeborn, die der Kohle weichen musste. In ehemaligen Umschaltzellen läuft der Betriebsfunk der vergangenen Zeit. Die Arbeitsstufe zwei wird da in verrauschtem Sächsisch ausgerufen, straffere Produktion und das Abstellen von Unregelmäßigkeiten werden gefordert. Ja, es war kein Zuckerschlecken, dieses Wühlen im Dreck, Verbrennen von Dreck und einer Luft voller Dreck.
In der Werkskantine trifft dann Zukunft auf Vergangenheit. Schauspielerin Birgit Unterweger preist das reine und mineralstoffreiche Wasser der neuen Seenlandschaft im gefluteten Tagebau als wahren Gesundbrunnen und aufstrebenden Wirtschaftsfaktor an („Wasser ist die neue Kohle!“). Auf der anderen Seite probt derweil ein Chor aus der Gemeinde Mölbis in alter DDR-Pracht ihr Kohle-Song-Repertoire.
Die Musik als identitäts- und gemeinschaftsstiftendes Element ist ohnehin das große Pfund, mit dem das Regieteam wuchert. Bereits zu Beginn intoniert David Kosel den DDR-Kanon „Es lebe die Arbeit“, den auch viele der Besucher freudig und inbrünstig mitsingen. Doch nicht nur der sozialistische Aufbau, dessen Abbau mittlerweile vollendet ist, auch der umtriebige Kulturuntergrund hat seine Stimme. Die Band Himbeerland, die seit 1976 in ihren schlagerartigen Stücken die DDR-Verhältnisse aufs Korn nimmt, singt: „Stickstoff-Henry macht aus Wäldern Wüsten und im Winter schwarzen Schnee“. Sie sind der Hauptact beim abschließenden „ökonomisch-kulturellen Leistungsvergleich“ in der Schaltwarte.
Wenn am Ende zu Glühwein und Bockwurst geschunkelt, gelacht und geschwoft wird, drängt sich die Frage auf, ob diese Zeitreise denn auch utopisch gewesen ist: Hier lebte für einen Moment das romantisch-verklärte Bild der DDR-Industrie wieder auf, Arbeit für alle, um welchen (Umwelt-)Preis auch immer. Und Arbeit schafft Gemeinschaft. Dabei spielt die kriegswichtige Bedeutung des Betriebes bis 1945 nur ganz am Rande eine Rolle, und auch eine Reflexion über die Rolle der Stasi oder andere Menschenrechtsfragen finden an diesem Abend keinen Platz. Das einzige Thema ist das Kombinat. Hier gehen Steigersong und Stickstoff-Henry Hand in Hand, solange getanzt und geschunkelt werden kann. Die Welt ist für einen Augenblick wieder in Ordnung, besonders wenn sie bereits untergegangen ist. Das ist wie bei diesen Partys, wo spät am Abend die alten Platten noch einmal vorgekramt werden.
Auf dem Nachhauseweg aber ist man froh, dass diese Lebensphase vorbei ist. Das VEB Kombinat Espenhain ist Geschichte. Die Schaltwarte soll planmäßig als letztes Großgebäude Ende April gesprengt werden.
Weitere Aufführungen: 28. und 29. März, Schaltwarte des ehemaligen Kombinats Espenhain. Premiere des Stücks: 18. März, Centraltheater Leipzig
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen