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Alle zwei Sekunden Randale

Einst waren die Briten für ihre Höflichkeit und Zurückhaltung bekannt. Heute sieht sich die Blair-Regierung gezwungen, mit drakonischen Strafen gegen zu laute Nachbarn und renitente Jugendliche vorzugehen. Experten bezweifeln den Sinn der Maßnahmen – sie dienen wohl allein dem Stimmenfang

VON RALF SOTSCHECK

Der Engländer steht an Bushaltestellen geduldig an, benutzt keine groben Wörter und entschuldigt sich, wenn er angerempelt wird. So war jedenfalls die Vorstellung, die man von dem Inselvolk bis in die Siebzigerjahre hatte. Aber das England aus der Fernsehserie „Mit Schirm, Charme und Melone“, wo John Steed und Emma Peel die Gauner stilvoll und höflich zur Strecke brachten, gibt es nicht mehr.

Auf dem europäischen Festland hat man das zur Kenntnis nehmen müssen, seit englische Fußball-Hooligans bei Auswärtsspielen ihrer Mannschaft eine Spur der Zerstörung hinterlassen, wobei es nicht selten Tote gibt. Die schlimmste Katastrophe ereignete sich im Brüsseler Heysel-Stadion, wo beim Europapokalfinale 1985 zwischen Liverpool und Turin bei der Randale 38 Italiener und ein Belgier ums Leben kamen.

Überfälle und Jugendbanden

Auch zu Hause gehört das idyllische englische Landleben mit einem Spiel Crocket auf kurz geschorenem Rasen bei einer Tasse Tee längst der Vergangenheit an. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht Überfälle auf alte Menschen vermelden oder über marodierende Jugendbanden und Nachbarschaftsstreitigkeiten, die mit der Waffe ausgetragen werden, berichten müssen. Antisoziales Verhalten ist zwar kein englisches Phänomen, aber die Labour-Regierung hat den Kampf dagegen zum Hauptthema ihres Wahlkampfes für die Unterhauswahlen im nächsten Jahr gemacht.

Ab sofort werde hart durchgegriffen, kündigte Premierminister Tony Blair Ende Juli an. „Der liberale, soziale Konsens der Sechzigerjahre beim Thema Recht und Ordnung ist vorbei“, sagte er. „Eine Gesellschaft der unterschiedlichsten Lebensstile hat eine Gruppe von jungen Leuten hervorgebracht, die ohne elterliche Kontrolle, ohne Vorbilder und ohne Verantwortungsbewusstsein für andere aufgewachsen ist. Das wurde durch die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse, die das gesellschaftliche Leben in den Städten und Dörfern Großbritanniens und der ganzen entwickelten Welt verändert haben, noch verstärkt.“

Überfüllte Gefängnisse

Seine Kritiker wiesen ihn darauf hin, dass dieser „liberale Konsens“ schon seit zehn Jahren nicht mehr bestehe. Damals verabschiedete der Tory-Innenminister Michael Howard, der inzwischen Parteichef geworden ist, eine Reihe von drakonischen Gesetzen, die es ermöglichten, Menschen im Schnellverfahren zu verurteilen und sie für kleinste Vergehen ins Gefängnis zu stecken. Labour segnete diese Gesetze damals nicht nur ab, sondern verschärfte sie sogar nach dem Wahlsieg 1997.

Seitdem platzen die Gefängnisse aus allen Nähten, so dass man auf Gefängnisschiffe zurückgreifen musste. Zwischen 1951 und 1991 war die Zahl der Gefangenen um 11.000 Menschen angewachsen, in den vergangenen zehn Jahren stieg sie um 25.000. Heute leben in Großbritannien 80.000 Menschen im Gefängnis. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl sind das mehr als in China, Birma oder Saudi-Arabien.

Tories und Labour wetteifern darum, welche der beiden Parteien schärfer gegen das Verbrechen durchgreift, weil das vermeintlich Stimmen bringt. Der Guardian monierte, dass die langjährige Tory-Premierministerin Margaret Thatcher, die das Individuum in den Mittelpunkt ihrer Politik stellte, einen Großteil der Schuld daran trägt, dass es keine traditionelle bürgerliche Gesellschaft mehr gibt.

Blair beklagt das zwar, bringt es aber nicht mit der egozentrischen Politik der Eisernen Lady in Zusammenhang. Das kann er auch nicht, weil er sich als politischer Erbe Thatchers aufführt. Am selben Tag, als Blair die Sechzigerjahre für begraben erklärte, stellte sein Innenminister, der von Geburt an blinde David Blunkett, Labours Fünfjahresplan vor, um die Verbrechensrate zu senken. Dafür hat die Regierung 2,8 Milliarden Pfund zusätzlich locker gemacht.

Mit dem Geld soll unter anderem die Zahl der Kontaktbereichsbeamten auf 20.000 verfünffacht werden. Sie sind billiger als normale Polizisten. Bürger können Petitionen gegen Nachbarn, die sich antisozial verhalten, einreichen, worauf die Polizei reagieren muss. Darüber hinaus sollen in benachteiligten Gegenden Jugendprojekte geschaffen und kurze Gefängnisstrafen in Hausarrest umgewandelt werden. Die Betroffenen müssen elektronische Fußbänder tragen, die an ein satellitengestütztes Überwachungssystem angeschlossen sind. Bisher wird dieses Verfahren bei 9.000 Menschen angewandt, im nächsten Jahr sollen es doppelt so viele sein. Dadurch will man die Zahl der Gefangenen stabil halten, bis 2008 soll die Verbrechensrate um 15 Prozent sinken.

Grundlage für all diese Maßnahmen ist ein Gesetzespaket, das die Regierung Anfang des Jahres medienwirksam vorstellte.

Unter „antisoziales Verhalten“ fallen danach zum Beispiel laute Nachbarn, Vandalismus, Graffiti – eben alles, was das Leben anderer Menschen stört. Das passiert alle zwei Sekunden. Die Regierung veröffentlichte die Statistik eines willkürlich gewählten Tages: Am 10. September 2003 nahm die Polizei 66.107 Beschwerden über antisoziales Verhalten auf.

Sperrgebiete für Jugendliche

Eins der Mittel, um das Problem einzudämmen, ist das nächtliche Ausgehverbot. Nach dem neuen Gesetz darf die Polizei bestimmte Viertel zu Sperrzonen erklären, die für Jugendliche unter 16 Jahren zwischen abends um neun und morgens um sechs tabu sind. Das Verbot gilt für alle Jugendlichen, selbst wenn sie sich in der Vergangenheit vorbildlich benommen haben. Sie dürfen sich nach 21 Uhr nur dann in den Sperrzonen sehen lassen, wenn sie von einem „verantwortlichen Erwachsenen“ begleitet werden. Diese Formulierung soll verhindern, dass die Jugendlichen das Verbot mit Hilfe eines 18-jährigen Freundes umgehen können. Wer dagegen verstößt, muss mit empfindlichen Geldstrafen rechnen, die von Schnellgerichten verhängt werden.

Ob das Ausgehverbot legal ist, steht jedoch längst nicht fest. Die Bürgerrechtsorganisation „Liberty“ hat im Juni vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Namen eines 13-jährigen Jungen Klage eingereicht. Der Junge, dessen Name nicht veröffentlicht wurde, lebt in Seaford in der Grafschaft Sussex. Die dortige Polizei hat das Stadtzentrum, den Stadtpark sowie den Strand zur Sperrzone erklärt. Das Verbot bleibt vorerst bis Ende November in Kraft. „Unsere Klage ist ein Präzedenzfall“, sagt Barry Hugill von „Liberty“. „Wenn wir gewinnen, und die Chancen dafür sind sehr groß, ist diese Politik in Großbritannien am Ende. Die Polizei hat genügend Macht, gegen Jugendliche vorzugehen, die das Gesetz brechen. Es gibt keine Rechtfertigung für dieses allgemeine Ausgehverbot, das alle Teenager wie Kriminelle behandelt. Jugendliche, die sich nichts zuschulden kommen lassen, unter Hausarrest zu stellen, beschränkt ihre Bewegungsfreiheit, die ihnen als Menschenrecht garantiert ist.“

Für einen 16-Jährigen ist gleich eine ganze Stadt zur Sperrzone geworden: Der Schotte Terence Westran darf Manchester, wo er zuletzt wohnte, bis zum Jahr 2014 nicht mehr betreten, weil er einem Geschäftsmann die Nase mit einer Flasche gebrochen hat. Ebenfalls in Manchester hat das Gericht vier Männern zwischen 17 und 28 Jahren verboten, Rad zu fahren, weil sie angeblich mit ihren Mountainbikes Drogen transportiert haben. Die vier gehören einer berüchtigten Bande an, die seit fünf Jahren mit einer anderen Bande im Krieg liegt. Bei den Auseinandersetzungen sind bisher 26 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 200 wurden verletzt. Eine Beteiligung an den Taten konnte den vier Männern aber nicht nachgewiesen werden. Polizeiinspektor John Graves sagte jedoch: „Ich habe keinen Zweifel, dass diese vier Männer individuell und kollektiv zu der Atmosphäre der Angst und Einschüchterung in unserer Stadt beigetragen haben.“

In dem „Anti-Social Behaviour Act“ vom Januar ist auch ein Versammlungsverbot vorgesehen, das bereits von Somerset bis Cumbria und von Wales bis Cambridgeshire angewendet wird. Auch um die Londoner Kathedrale St. Paul’s dürfen sich demnächst keine Gruppen von Jugendlichen mehr bilden. Eine „Gruppe“ sind laut Gesetz mehr als ein Jugendlicher. Mehrere Organisationen ethnischer Minderheiten protestierten, weil sie das für diskriminierend erachten: In anderen Kulturen sei es nun mal üblich, sich an der Straßenecke zu versammeln.

Die Tories taten Labours Strategie als „noch einen weiteren Plan der Regierung“ zur Bekämpfung des Verbrechens ab. „Wenn ich mich nicht irre, sagte Blair vor zwei Jahren, dass Straßenraub bis September des Jahres ausgelöscht sein sollte“, höhnte der stellvertretende Tory-Vorsitzende Liam Fox. „Ich glaube, das war Teil des Vierhundertjahresplans gegen das Verbrechen.“

Blair sagte in seiner Rede Ende Juli, dass die Menschen heutzutage Regeln, Ordnung und anständiges Benehmen wollen – als ob frühere Generationen Chaos, Unordnung und schlechtes Betragen bevorzugten. Ursprünglich hatte der Premierminister geplant, Menschen das Wohngeld zu streichen, wenn sie ihre Nachbarn in den Sozialbauvierteln terrorisierten, indem sie Müll in die Gärten werfen oder laute Musik spielen. Blair hatte sich vehement für den Wohngeldentzug eingesetzt, doch bei einer Meinungsumfrage kam heraus, dass 75 Prozent der Bevölkerung dagegen sind. Da ließ er den Plan ganz schnell fallen. Schließlich geht es bei den Maßnahmen gegen antisoziales Verhalten vor allem darum, Wählerstimmen zu gewinnen.

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