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Das letzte Ziel verfehlt

Im Finale der Luftgewehrschützinnen vergibt die Russin Ljubow Galinka mit dem letzten Schuss die Goldmedaille. Sonja Pfeilschifter hatte schon viel früher keine Chance mehr auf den Sieg

Wer mehr als drei- oder viermal nicht ins Schwarze trifft, hat keine Chance mehr

AUS ATHEN FRANK KETTERER

Ljubow Galinka wollte nur noch fort, ganz weit weg, irgendwo allein sein mit sich und ihren ebenso erschöpften wie schweren Gedanken. Sie hatte der Chinesin Li Du zu deren gerade gewonnen Goldmedaille gratuliert, dabei tapfer und doch traurig gelächelt, nun aber hatte die Russin ihr Luftgewehr unter die Arme gepackt und wollte sich schnellstmöglich aus dem Staub machen. Allein man ließ sie nicht, Kampfrichter hielten sie zurück. Das Wettkampfprotokoll musste Ljubow Galinka noch unterzeichnen und die Siegerehrung über sich ergehen lassen. Eine große Medaille aus Silber wurde der kleinen und zierlich wirkenden Frau dort um den Hals gehängt, wieder versuchte sie zu lächeln, wieder gelang es ihr nicht so recht. Dann ließ man die arme Frau Galinka endlich ziehen – und allein sein.

In den dramatischen Minuten davor hatte die 31-jährige Russin nicht Silber gewonnen, sondern Gold verloren, und es konnte keinen Zweifel daran geben, dass es genau so war. Schon am frühen Morgen hatte sie mit 399 Ringen einen neuen olympischen Rekord mit dem Luftgewehr aufgestellt, auch im anschließenden Finale keinen Zweifel an ihrer an diesem Tag ziemlich einsamen Klasse gelassen. Zwar war ihr die Chinesin Lu Di, nach dem Vorkampf mit 398 Ringen bereits Zweite, bis auf 0,4 Zähler auf die Pelle gerückt, aber für mehr reichen, da konnte man sich sicher sein, würde das nicht. Dann kam der letzte der 50 Schüsse – und alles wurde doch noch anders: Li Du legte eine 10,6 vor, Galinka setzte die letzte Kugel nur auf 9,7. Ihr letzter Schuss war ihr schlechtester – und er entriss ihr das bereits sicher scheinende Gold. Es war eine Tragödie für Ljubow Galinka, und es war sehr verständlich, dass sie sich darüber nicht so recht freuen konnte.

Dabei muss man anmerken, dass die Russin, die in Ekaterinenburg geboren wurde und sich seit ihrem 13. Lebensjahr im fachgerechten Umgang mit der Waffe übt, kein Niemand ist in der Welt des Schießsports. Schon in Sydney war sie Vierte geworden, danach hatte sie die Weltcup-Finals 2002 und 2003 gewonnen. Ihre Bestleistung liegt bei 504,3 Ringen, nur 0,6 Zähler unter dem Weltrekord (der wird allerdings von der Chinesin Li Du gehalten). Es gab also keinen Grund, warum Galinka ausgerechnet diesen letzten Schuss so derart danebensemmelte, außer diesem: ihren Nerven. Nicht dass sie damit prinzipiell ein Problem hätte, ganz im Gegenteil, aber es kann jeden treffen – und immer. Bei Olympia hat es nun eben Ljubow Galinka getroffen.

Schießen kann da ganz schön grausam sein, selbst wenn es nur als Sport ausgeübt wird. Im Prinzip ist es der reine Psychoterror, Nervenkrieg pur. Zumal man sich in der Weltspitze kaum noch Fehler erlauben darf, wie das olympische Luftgewehrfinale gezeigt hat. Wer bei den 50 Schuss mehr als drei- oder viermal nicht ins Schwarze trifft, hat schon keine Chance mehr auf einen vorderen Platz. Zusammen mit der Tatsache, dass Schützen nur bei Olympia das Interesse der Öffentlichkeit finden und somit nur alle vier Jahre, treibt das den Stress noch weiter in die Höhe. Es sind Schwindel erregende Höhen. Und man sieht das den meist zierlichen Frauen durchaus an: Wie sie unter diesem Stress und dieser Anstrengung leiden, wie es an ihnen zerrt, und wie sie versuchen, ihr Innerstes zu bändigen und zu beruhigen, um äußerlich eine ruhige Hand zu haben und einen ruhigen Anschlag.

Auch Sonja Pfeilschifter kann ein Lied davon singen, wie sehr die Nerven einem einen Strich durch die Rechnung machen können in diesem Sport. Vor vier Jahren in Sydney war die nur 1,56 m große Münchnerin als große Favoritin angereist – und dann gab es bei Olympia nicht mehr für sie als Rang vier – und jede Menge Tränen. Auch diesmal musste man die 33-Jährige aus Eching bei München auf der Rechnung haben, auch wenn sie sich selbst „nicht als Medaillenfavoritin“ sah. Jedenfalls hat Pfeilschifter das so gesagt, so wie sie auch gesagt hat: „Vor vier Jahren in Sydney wollte ich mehr.“ Vielleicht war das ein Trick, den ihr der Psychologe beigebracht hat, mit dem sie seit Sydney zusammenarbeitet. Wer weniger will, hat weniger Druck. Vielleicht hat Sonja Pfeilschifter deshalb auch nach dem Wettkampf gesagt: „Dass ich hier eine Medaille gewinnen kann, habe ich total verdrängt. Ich bin hier her gefahren und habe mir gesagt: Es wird was, oder es wird nichts.“

Es ist dann doch wieder nichts geworden, jedenfalls bestimmt nicht das, was sie sich irgendwo im Unterbewusstsein vorgestellt hat. Ihr Unterbewusstsein wollte doch wieder mehr, mindestens eine Medaille – und bekam bereits am Morgen in der Qualifikation wenig: Bereits der zweite Schuss brachte ihr nur acht Ringe ein, später schoss sie noch zweimal lediglich neun. Machte zusammen 396 Ringe, was den sechsten Platz nach dem Vorkampf ergab. Das ist bestimmt nicht schlecht, aber die Münchnerin wusste: „Drei Ringe Unterschied sind eine Welt. Die Medaille war schon vor dem Finale erledigt.“

Es blieb schließlich bei Rang sechs, so sehr sich Sonja Pfeilschifter im Finale auch mühte, die drei Ringe Rückstand konnte sie nicht mehr wettmachen. Am Ende des Wettkampfs packte deshalb auch sie ihr Gewehr, gratulierte der glücklichen Chinesin, der armen Russin obendrein, und verließ die neue Schießhalle in Markopoulo. Auch Sonja Pfeilschifter hat dabei ein Lächeln versucht. Auch ihr ist es nicht so recht gelungen.

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