: Kreuzzug gegen Kungelrunden
Initiative muss in den kommenden zwei Wochen mindestens 60.000 Unterschriften für ein neues Wahlrecht sammeln. Ziel: Die Wähler sollen entscheiden, wer in die Bürgerschaft einzieht, nicht die Parteien. SPD und CDU machen Druck
von GERNOT KNÖDLER
Hamburg hat das schlechteste Landtagswahlrecht der Republik. Da ist sich Angelika Gardiner von der Initiative „Mehr Bürgerrechte“ sicher. Wer als Abgeordneter in die Bürgerschaft einzieht, darüber entscheiden zurzeit weitgehend die Parteien allein. Auf Delegiertenkonferenzen bestimmen sie, wer welchen Platz auf der Landesliste erhält und damit auch die Chance auf einen Platz im Parlament. Dieses Verfahren bietet in den Parteien reichlich Gelegenheit, Deals auszukungeln und Leute wegzuputschen. Zuletzt ist auf diese Weise im März 2001 der CDU-Fraktionschef in Mitte, Hartwig Kühlhorn, um sein Amt gekommen.
„Mehr Bürgerrechte“ will, dass sich die Politiker in Sorge um ihre Wahlaussichten in Zukunft stärker an den Wählern orientieren statt an ihren Kollegen. Die Initiative wird von der Patriotischen Gesellschaft, einigen Gewerkschaften, der Handwerkskammer, GAL und FDP, sowie von Prominenten wie der Bischöfin Maria Jepsen oder dem Verfassungsrechtler Hans Peter Bull unterstützt. Statt des heutigen Bürgerschaftswahlrechts, bei dem der Wähler mit seiner Stimme nur die Partei A, B oder C wählen kann, schlagen sie ein personalisiertes Verhältniswahlrecht vor, bei dem die Wähler mehrere Stimmen kumulieren (häufeln) und panaschieren (verteilen) können.
Hamburg soll dafür in 17 Wahlkreise eingeteilt werden mit drei bis fünf direkt zu wählenden Abgeordneten. Für ganz Hamburg macht das 71 Abgeordnete. Dazu kommen 50 Abgeordnete, die über Kreuze auf den Landeslisten gewählt werden. Auf die Zettel für den Wahlkreis und die Landeslisten kann jeder Wahlberechtigte je fünf Stimmen verteilen. Dabei muss er nicht alle Stimmen demselben Kandidaten oder derselben Partei geben.
Unter dem Druck der Initiative hat die Bürgerschaft beschlossen, einen Gegenvorschlag vorzulegen, der sich am Wahlrecht für die Bundestagswahl orientiert. SPD, CDU, Schill-Partei und FDP beauftragten den Verfassungsausschuss, bis zum 12. November ein Gesetz zu entwerfen, mit dem erstmals Wahlkreise geschaffen würden. Über das Verhältnis der Parteien in der Bürgerschaft würde weiter eine Listenwahl entscheiden – wie die Zweitstimme bei der Bundestagswahl. Wer in seinem Wahlkreis gewählt würde, bekäme aber auf jeden Fall einen Sitz im Parlament, unabhängig von seinem Platz auf der Liste.
Aus Sicht der Initiative würde dieser Vorschlag nur wenig ändern. Das Bundestagswahlrecht sei ein untaugliches, weil selbst reformbedürftiges Vorbild. Ein „abschreckendes Beispiel“ dafür sei Harburg, sagt Gardiner, „wo sich seit Jahren Hans-Ulrich Klose (SPD) und Volker Rühe (CDU) gegenüberstehen, ohne die Chance, einen der beiden loszuwerden“. Sie kenne viele Frauen, die gerne mehr Frauen im Parlament sähen. Bei der geringen Auswahl, die Einmandatswahlkreise böten, hätten sie kaum Möglichkeiten, entsprechend Einfluss zu nehmen. 80 Prozent der Bundestagsabgeordneten stünden schon vor der Wahl fest.
SPD-Fraktionschef Walter Zuckerer verteidigte gestern den Vorschlag der großen Wahlrechtskoalition mit dem Argument, je fünf Stimmen auf zwei Wahlzetteln zu verteilen, überfordere die Wähler. „Bei komplizierten Verfahren droht die Zahl der ungültigen Stimmen zu steigen“, argumentierte Zuckerer. Außerdem werde in Deutschland bisher nur bei Kommunalwahlen kumuliert und panaschiert. Für den Chef einer Bürgerschaftsfraktion eine Frage der Ehre: „Hamburg ist doch kein Dorf.“
Verfassungsrechtler Bull, Ex-Innenminister von Schleswig-Holstein, führte seine Erfahrung aus dem Innenleben der SPD ins Feld. „Als Parteimitglied und Demokrat würde ich mich freuen, wenn die Parteien aufgelockert werden in ihren Strukturen“, sagte er. Der Wahlrechtsvorschlag der Initiative werde enorme Dynamik in die Parteien bringen.
Die beiden großen Bürgerschaftsparteien machen unterdessen hinter den Kulissen Druck gegen die Initiative, das will Manfred Brandt von „Mehr Bürgerrechte“ in vertraulichen Gesprächen erfahren haben: „Die CDU bearbeitet die Kammern, die SPD die Gewerkschaften, und die Kirchen werden von beiden gemeinsam bearbeitet.“
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