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Rot-Grün ist tot, es lebe Rot-Grün

Die Koalition formuliert mit ihren Gesundheits-, Renten- und Finanzreformen eine neue Ära ihrer Geschichte. Aber bisher fehlt SPD und Grünen ein Begriff dafür

Kann es angesichts der Transformationen noch eine Vorstellung von einer besseren Gesellschaft geben?

Mit der Regierungserklärung vom 14. März hat die rot-grüne Koalition eine Wendemarke gesetzt, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Denn die einzelnen Maßnahmen entfalten eine Eigendynamik, die weit über das hinausgeht, was Bundeskanzler Gerhard Schröder damals formulierte. Es gibt keinen Reformschritt, dessen innere Widersprüchlichkeit nicht den nächsten notwendig erscheinen lässt.

Die aktuelle Gesundheitsreform wurde mit dem Lahnsteiner Kompromiss von 1993 verglichen – und schon ist absehbar, dass ihr eine noch kürzere Halbwertszeit beschieden sein wird als jenem. Rente und Reform bilden bereits seit Jahren ein unauflösliches Begriffspaar, beim demografischen Faktor ist immerhin wieder der Stand von Sommer 1998 erreicht. Die Änderungen der Sozial- und Arbeitslosenhilfe münden unmittelbar in einen Eingriff in die Architektur der kommunalen Finanzverfassung. Diese ist wiederum eingebettet in eine Transformation der föderalen Entscheidungsstrukturen. Und alles bewegt sich finanzpolitisch in einem System kommunizierender Röhren, dessen Füllmenge von der Reform der Einkommensteuer, den erhofften Rückflüssen der veränderten Devisenbesteuerung und letztendlich vom wirtschaftlichen Wachstum abhängt, das durch die Reformen angeschoben werden soll.

Die Komplexität des Veränderungsprozesses wird verstärkt, weil die Politik keine Orientierung anbietet, die den Rahmen erklären könnte. Die Debatte verliert sich in Details oder sie fixiert sich auf die vordergründigen Aspekte des Machtgewinns. Die Gesellschaft nimmt diese Veränderungen widerwillig hin. Ohne die Tragweite dieser Prozesses zu erkennen, projiziert sie ihre Angst vor Statusverlusten auf Einzelaspekte des Verfahrens.

Fest steht: Wir haben es mit einer grundlegend neuen rot-grünen Politik zu tun. Die erste rot-grüne Regierung war noch getragen von einem gesellschaftlich- kulturellen Aufbruch. Die Reformen dieser Zeit – vom Staatsangehörigkeitsrecht bis zur Homoehe – hatten eine langen, konfliktreichen gesellschaftlichen Vorlauf, sie waren Gegenstand jahrzehntelanger kultureller Anerkennungskämpfe. Die Sozialreformen, die nach 1998 in Angriff genommen wurden, bargen immerhin noch das Heilsversprechen, dass das wohlfahrtsstaatliche Anrechtesystem im Kern reformierbar ist.

Doch die Ära, in der sich rot-grüne Politik noch aus der Vergangenheit begründen ließ und man vom „rot-grünen Projekt“ sprach, ist unwideruflich zu Ende. Noch ist unklar, auf welchem Programm die Koaltion künftig fußen kann. Als Gerhard Schröder und Joschka Fischer erklärten, dass sie nach 2006 weitermachen wollen, schufen sie lediglich rot-grüne Kontinuität, indem sie die Sache auf den Kopf stellten.

Der Reformprozess tritt derzeit gerade in seine parlamentarische Phase ein. Man kann darin leicht das Unvermögen erkennen, angesichts sich rasant und krisenhaft entwickelnder Verhältnisse, die Politik noch in einen Rahmen zu stellen, der über den Augenblick hinaus Anhaltspunkte für die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft bietet. Jürgen Habermas hat Ende der Achtzigerjahre für dieses Unvermögen den Begriff der „neuen Unübersichtlichkeit“ geprägt.

In dem Bemühen die Übersicht zu behalten, versucht die Sozialdemokratie in einem Akt nachvollziehender Programmarbeit, die Eigendynamik des Prozesses einzuholen und ihn in die eigene Ideologie – und Parteiengeschichte einzuweben. Der jüngst ausgetragene Streit um die Begriffe des „demokratischen Sozialismus“ und der „sozialen Gerechtigkeit“ zeigt die Schwierigkeit, der eigenen Praxis noch eine Vorstellung einer besseren Gesellschaft abzugewinnen. Denn die Transformationen werfen die Frage auf, ob es überhaupt noch eine auf das Ganze der Gesellschaft zielende Vorstellung des Besseren geben kann.

Mit diesen Reformen verschiebt sich die sozialpolitische Debatte weg von den an Großgruppen orientierten Verteilsystemen, die in der bundesrepublikanischen Geschichte die Garanten des Fortschritts waren. Das gesellschaftliche Gefüge wird sich individualisieren, der Staat an den Rand gedrängt. Entsprechend wird auch die Bindekraft schwächer, mit der Politik noch für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen kann.

Die bundesdeutsche Gesellschaft wird amerikanischer und der Zuwachs an individuellen Freiheiten wird noch größer werden. Das multikulturelle Vorbild, das andere darin erblicken, wird ohne Kehrseite einer Amerikanisierung des politischen Betriebes kaum zu haben sein. Ob damit jedoch auch eine Amerikanisierung der sozialen Frage droht, ist eine zentrale, noch offene Frage.

Die Ära, in der man noch vom „rot-grünen Projekt“ sprach, ist unwideruflich zu Ende

Mit der Individualisierung der Lebensverhältnisse individualisiert sich auch der Fortschrittsbegriff. Er bemisst sich an den Möglichkeiten, die dem Einzelnen zur Bewältigung seines Lebens zur Verfügung gestellt werden. Es ist erklärtes Ziel dieser Regierung, jedem, der will, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dies ist ein hoch dotierter Wechsel auf eine ungewisse Zukunft. Wenn er platzt, hat Rot-Grün jeglichen Kredit verspielt. Um ihrem Ziel „Arbeit für alle“ nahe zu kommen, hat die Regierung den Arbeitsmarkt in ein multioptionales Feld verwandelt: Für den Einzelnen erhöhen sich damit Chancen und Risiken. Denn die Kehrseite der propagierten Teilhabe ist die Exklusion. Sie wird die soziale Frage der kommenden Jahre werden. Sie kennt kein Oben und Unten, denn von ihr ist potenziell fast jeder betroffen. Sie ist ein dynamisches, temporäres Phänomen, das sich doch leicht zu einem nach unten beschleunigenden Kreislauf verdichten kann. Denn auf den Ausschluss von der Arbeit folgen Isolation und Deklassierung. Die Herausbildung einer neuen Underclass droht, wenn die Nachfrage nach Arbeitskräften ausbleibt, die Rot-Grün von ihren Reformen erhofft.

Unter diesen Bedingungen kann Politik keine besseren gesellschaftlichen Zustände mehr versprechen – sie kann das Bessere nur noch individuell ermöglichen. Rot-Grün hat zwar eine Vorstellung von den einzelnen Reformen und den zugrunde liegenden Normen, aber keinen Begriff des Gesellschaftsganzen, auf das der Prozess zielt.

Es ist nicht mehr das wohlfahrtstaatliche Modell der Arbeitnehmergesellschaft, das der Sozialdemokratie ihre goldenen Jahre beschert hat. Es ist auch nicht allein die grüne Fürsorge für kommende Generationen, welche Sinnstitung geben können. Die Integrationsidee dieser Gesellschaft entfaltet sich vielmehr aus der wechselseitigen Anerkennung der unterschiedlichen Vorstellungen von einem guten Leben. Der Staat hätte dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Er muss allen ein Leben in Würde gewährleisten und für gleiche Startchancen sorgen. Ob das Leben gelingt, ist jedoch in die Hände des Einzelnen gelegt. Es ist eine Politik, die Sicherheit für alle und jedem seine Chance bietet. DIETER RULFF

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